Kapitel 7 Die IS-Kurve: das zinsabhängige Gütermarktgleichgewicht

Im vorherigen Kapitel haben wir das nachfrageseitige Gleichgewicht der Ökonomie untersucht. Dabei haben wir bereits festgestellt, dass die Wirtschaftspolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflussen kann und dass dies wichtige Konsequenzen für die Beschäftigung in einer Ökonomie hat. In diesem Zusammenhang haben wir insbesondere die wichtige Rolle der Fiskalpolitik diskutiert. Wir haben jedoch auch bereits potentiell zinselastische Investitionen in das Modell eingeführt. Hierdurch erhält die Wirtschaftspolitik eine weiteres Instrument, dem wir uns nun zuwenden wollen: der Zinspolitik der Zentralbank.

Um die Wirkungen der Zinspolitik kompakt analysieren zu können, bedienen wir uns der \(IS\)-Kurve, die das Gütermarktgleichgewicht als Funktion des Realzinssatzes darstellt. Der Realzins wird dabei in der monetären Sphäre der Ökonomie, z.B. durch die Zentralbank, bestimmt.

Wir werden dabei sehen, dass die \(IS\)-Kurve an sich keine wirklich neuen Informationen für uns bereithält. Vielmehr basiert sie auf den Elementen, die in den Kapiteln über die aggregierte Nachfrage und das Gleichgewicht des Gütermarktes eingeführt wurden, wie wir sie in Kapitel 6 dargestellt haben. Die \(IS\)-Kurve ermöglicht uns eine gleichzeitige Darstellung mehrerer Gleichgewichtssituationen auf dem Gütermarkt. Die verschiedenen Situationen unterscheiden sich dabei nur hinsichtlich der Veränderung genau einer Determinante des Gleichgewichts, des Realzinssatzes. Genau darin liegt auch der Nutzen der \(IS\)-Kurve.

So können wir sehen, wie unsere Modellökonomie auf eine wirtschaftspolitische Änderung des Zinssatzes reagieren würde. Der Zinssatz in unserem Modell wird noch völlig frei von der Zentralbank gewählt. Wir werden später sehen, dass die Zentralbank ihre Zinspolitik nach bestimmten Regeln ausrichten kann. In diesem Kapitel gehen wir aber zunächst davon aus, dass die Zentralbank keine bestimmte Regel befolgt.

Damit stehen uns in diesem Kapitel bereits zwei wirtschaftspolitische Instrumente zur Beeinflussung der Nachfrage zur Verfügung. Durch die Fiskalpolitik bestimmen wir die Staatsausgaben und durch die Zinspolitik bestimmen wir den Zinssatz.

Warum “IS”?

Die Abkürzung “IS” steht für Investitionen = Sparen. Der Grund dafür ist, dass die Gleichheit der aggregierten Investitionen und des gesamtwirtschaftlichen Sparens entlang der \(IS\)-Kurve, d.h. im Gütermarktgleichgewicht, immer gilt. Wir können dies veranschaulichen, wenn wir verstehen, wie das Gleichgewicht des Gütermarktes mit den Investitionen, \(I\), und dem Sparen, \(S\), der verschiedenen Akteure in einer Ökonomie zusammenhängt.

Verwenden wir dazu das einfachste Modell der Nachfrageseite einer geschlossenen Ökonomie ohne Steuern und ohne Staatsausgaben. Nachfrage, Produktion und Einkommen dieser Ökonomie, \(Y\), sind im Gütermarkgleichgewicht durch, \(Y = C + I\) gegeben. Gleichzeitig können die Haushalte dieser Ökonomie das im Produktionsprozess erwirtschaftete Einkommen entweder konsumieren, \(C\), oder Sparen, \(S\), d.h. es gilt auch: \(Y = C + S\). Durch Gleichsetzen dieser beiden Gleichungen erhalten wir: \[C + I = C + S\] also: \[I = S\]

Im Gütermarktgleichgewicht stimmt das gesamtwirtschaftliche Sparen also genau mit der Höhe der gesamtwirtschaftlichen Investitionen überein. Die durch das Sparen der Haushalte nicht nachgefragte Produktion wird durch die Investitionen der Unternehmen nachgefragt. Da wir uns entlang der \(IS\)-Kurve immer in einem Gütermarktgleichgewicht befinden, gilt auch immer die Gleichheit von \(I\) und \(S\). Daher also der Name “IS”-Kurve.

IS-Kurve mit Staatsausgaben:

Gehen wir nun wieder von unserer geschlossenen Ökonomie mit Staatsausgaben aus, in der keine Steuern erhoben werden. Die Staatsausgaben sind hier also defizitfinanziert.

\(Y = C + I + G\)

Haushalte können ihr Einkommen entweder für Konsum verwenden oder sparen:

\[Y = C + S\] Wir erhalten also:

\[C + I + G = C + S\] Es gilt:

\[S = I + G\] Im Gleichgewicht wird die durch das Sparen der Haushalte nicht nachgefragte Produktion durch die Investitionen der Unternehmen und den Konsum des Staates nachgefragt.

7.1 Zinselastische IS-Kurven

Wie wir in Kapitel 4 erörtert haben, kann der Zinssatz eine wichtige Determinante der Investitionen und damit der Gesamtnachfrage sein. Zinsentscheidungen der Zentralbank sollten im Normalfall daher einen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung haben. Schon das einfache, um eine zinssensitive Investitionsfunktion erweiterte Einnahmen-Ausgaben-Modell aus Kapitel 6 führt zu einer zinselastischen \(IS\)-Kurve und eröffnet damit die Möglichkeit einer aktiven Einflussnahme der Zentralbank auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.30

Die \(IS\)-Kurve stellt hier das Gütermarktgleichgewicht für unterschiedliche Realzinsen unter ansonsten identischen Bedingungen dar. Da der Realzinssatz in diesem Modell eine dämpfende Wirkung auf die Investitionsnachfrage hat, ist die Beziehung, die durch die \(IS\)-Kurve dargestellt wird, negativ: Ein höherer Realzinssatz führt unter sonst gleichen Bedingungen über eine sinkende Investitionsnachfrage und den Multiplikatorprozess zu einem geringeren Gleichgewichts-Output. Der Verlauf der \(IS\)-Kurve lässt sich am besten in Verbindung mit dem keynesianischen Kreuz des Gütermarktes verstehen. Für die grafische Darstellung verwenden wir hier wieder das numerische Beispiel des Modells aus Kapitel 6. Der obere Teil der Abbildung 7.1 zeigt zwei verschiedene Gleichgewichtssituationen des Gütermarktes im Einkommen-Ausgaben-Modell. Das erste Gleichgewicht wird durch den Schnittpunkt der blauen gepunkteten Nachfragekurve und der 45-Grad-Linie bestimmt. Genau diese Gleichgewichtssituation ist auch im unteren Teil der Abbildung dargestellt, wo der aktuelle Zinssatz von 20% auf der horizontalen Achse angegeben ist.

Nehmen wir nun an, dass die Zentralbank den Zinssatz von 20% auf 0,5% senkt. Die Investitionsnachfrage der Unternehmen wird nun aufgrund der niedrigeren Zinskosten steigen. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, geht ein solcher einkommensunabhängiger Anstieg der Nachfrage mit einer Aufwärtsverschiebung der Nachfragefunktion einher. Die neue Nachfragekurve ist durch die blaue durchgezogene Linie gegeben und ihr Schnittpunkt mit der 45-Grad-Linie bestimmt das neue Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht wird durch den Multiplikatorprozess hergestellt, der durch einen Nachfrageüberschuss ausgelöst wurde. Die Zinssenkung auf 0,5% hat somit zu einem Anstieg des gleichgewichtigen BIP auf 118 geführt. Dieses Gleichgewicht ist auch im unteren Teil der Abbildung 7.1 dargestellt.

Abbildung 7.1: Zinsabhängiges Gütermarktgleichgewicht: die IS-Kurve.

Die Linie, auf der sich die beiden Gleichgewichtspunkte im unteren Teil der Abbildung befinden, ist die \(IS\)-Kurve dieses Modells. Wir haben uns infolge der Zinssenkung vom ersten zum zweiten Gleichgewichtspunkt auf der \(IS\)-Kurve bewegt. Würden wir den Zinssatz nicht ganz so stark absenken, z.B. nur auf 15%, dann würde die Nachfragekurve sich im keynesianischen Kreuz nicht ganz so stark nach oben verschieben, und das Gleichgewicht auf der \(IS\)-Kurve läge etwa auf halber Strecke zwischen den in der Abbildung dargestellten Punkten. Die \(IS\)-Kurve repräsentiert somit alle möglichen Gleichgewichtssituationen, die sich bei unterschiedlichen Zinssätzen unter sonst gleichen Bedingungen ergeben würden.

Für uns bietet die \(IS\)-Kurve somit eine einfache Möglichkeit, die Auswirkungen von Zinsänderungen auf das BIP unserer Wirtschaft zu analysieren, ohne die Nachfragekurve im Einkommen-Ausgaben-Modell jedes Mal verschieben zu müssen. Die \(IS\)-Kurve zeigt uns an, welchen Zinssatz wir setzen müssten, um ein bestimmtes Outputniveau zu erreichen. Nehmen wir an, dass unsere Wirtschaft von einem negativen Nachfrageschock getroffen wird. Als Folge davon verschiebt sich die \(IS\)-Kurve nach links und die Produktion und die Beschäftigung fallen unter ihre vorherigen Niveaus. Wir können nun sowohl mit der Zinspolitik als auch mit der Finanzpolitik auf diese Situation reagieren. In der folgenden interaktiven Anwendung können nun negative oder positive Nachfrageschocks simuliert werden.

7.2 Die IS-Kurve und der Multiplikator

In den obigen Abschnitten und interaktiven Abbildungen haben wir bereits gesehen, dass sich die \(IS\)-Kurve im Falle eines nicht zinsbedingten Nachfrageschocks horizontal verschiebt. Wenn stattdessen die Veränderung der Nachfrage das Ergebnis einer Änderung des Zinssatzes ist, bleibt die \(IS\)-Kurve in Position und wir bewegen uns entlang der \(IS\)-Kurve zu einem neuen Gleichgewichtspunkt. Aber was bestimmt die Stärke dieser Bewegung? Wie weit bewegen wir uns auf der \(IS\)-Kurve, wenn sich der Zinssatz ändert? Es liegt auf der Hand, dass die Zinsreagibilität der Investitionen die Stärke der Reaktion des Gleichgewichts-Outputs auf eine Zinsänderung bestimmt. Da die \(IS\)-Kurve jedoch Gleichgewichtssituationen abbildet, spielt hier auch der Anpassungsprozess an das Gleichgewicht und damit der Multiplikator eine wichtige Rolle. Dies lässt sich am besten aus der formalen Darstellung der \(IS\)-Kurve ableiten. Die \(IS\)-Kurve wird formal durch die Gleichung des Gleichgewichts-BIP bestimmt. Für das einfache Modell der obigen Beispiele (Gleichung (6.18)):

\[Y^* = \underbrace{\frac{1}{1 - c_Y}}_{\text{Multiplikator}} \quad \underbrace{(c_a + a_a - a_r r +G )}_{\text{einkommensunabhängige Nachfrage}}\] Da die \(IS\)-Kurve den Zusammenhang zwischen Output und Zins darstellt, ist es sinnvoll die Gleichung durch einfaches Umstellen in einen zinsunabhängigen und einen zinsabhängigen Term zu teilen: \[Y^* = \underbrace{\frac{1}{1 - c_Y} (c_a + a_a +G )}_{\text{zinsunabhängig}} - \underbrace{\frac{ a_r }{ 1 - c_Y } r}_{\text{zinsabhängig}}\] Wobei \(c_Y\) wieder die marginale Konsumneigung ist, die den Multiplikator bestimmt, und \(a_r\) die Zinsreagibilität der Investitionen ist. Den in den Gleichungen enthaltenen Multiplikator können wir mit \(\mu=\frac{1}{1 - c_Y}\) kennzeichnen, um die Gleichung noch etwas übersichtlicher aufzuschreiben:

\[\begin{equation} Y^* = \mu (c_a + a_a +G ) - \mu a_r r \tag{7.1} \end{equation}\]

Die Konstanten \(c_a\), \(a_a\) und \(G\) sind die zins- und einkommensunabhängigen Ausgaben für Konsum, Investitionen und staatliche Nachfrage. Wenn wir die mit dem Multiplikator multiplizierte Summe dieser Ausgaben zusammenfassen, \(A = \mu(c_a + a_a + G)\), und das Produkt aus Multiplikator und Zinsreagibilität der Investitionen als \(\alpha = \mu a_r\) bezeichnen, können wir die Gleichung auch nochmals vereinfacht aufschreiben:

\[\begin{equation} Y^* = A - \alpha r \tag{7.2} \end{equation}\]

wobei:

\[Y^* = \underbrace{A}_{\text{zinsunabhängig}} - \underbrace{\alpha r}_{\text{zinsabhängig}}\] Auf diese Weise können wir den Zusammenhang mit der grafischen Darstellung der \(IS\)-Kurve leicht erkennen: Die Gleichung stellt das gleichgewichtige BIP in Abhängigkeit vom realen Zinssatz der Zentralbank dar, d.h. genau die Kombination von Gleichgewichtspunkten, deren Verbindung die \(IS\)-Kurve ergibt. Die Stärke dieses negativen Zusammenhangs wird durch den Parameter \(\alpha = \mu a_r\) bestimmt. Dieser Parameter gibt die negative Steigung der \(IS\)-Kurve an. Je größer der Multiplikator und/oder die Zinsreagibilität der Investitionen ist, desto mehr reagiert das Gleichgewichts-BIP auf eine Änderung des Zinssatzes (d.h. desto stärker sinkt es bei einem Anstieg des Zinssatzes). Unsere Bewegung auf der \(IS\)-Kurve wird daher umso größer sein, je größer das Produkt aus dem Multiplikator und der Zinsreagibilität ist.

Die grafische Darstellung der IS-Kurve

In den obigen Abbildungen haben wir \(Y^*\) auf der horizontalen Achse, während der Zinssatz auf der vertikalen Achse abgetragen ist. Für diese typische Darstellung der \(IS\)-Kurve müssen wir einfach die Gleichung für das gleichgewichtige BIP nach \(r\) umstellen:

\[Y^* = A - \alpha r\] \[Y^* - A = - \alpha r\] \[\frac{Y^* - A}{- \alpha} = r\] \[\begin{equation} r = \frac{1}{\alpha}A - \frac{1}{\alpha}Y^* \tag{7.3} \end{equation}\]

Wegen der notwendigen Umstellung nach \(r\) wird die \(IS\)-Kurve mit dem Zinssatz auf der vertikalen (y-)Achse manchmal als inverse \(IS\)-Kurve bezeichnet. Der Anstieg der inversen \(IS\)-Kurve ist hier also durch \(- \frac{1}{\alpha}\) gegeben. Das Umstellen der Gleichung nach \(r\) ist ein rein formaler Schritt für die grafische Darstellung. Die Kausalität, die der Gleichung zugrunde liegt, ist nach wie vor die selbe: der reale Zinssatz ist eine Determinante des gleichgewichtigen BIP. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen gleichgewichtigen BIP und dem realen Zinssatz wird also weiterhin durch das Produkt aus Multiplikator und Zinsreagibilität der Investitionen \(\alpha = \mu a_r\) bestimmt.

Abbildung 7.2: Verschiebung der Realzins-IS-Kurve nach einem positiven bzw. negativen Nachfrageschock.

Wenn sich statt des realen Zinssatzes eine oder mehrere Komponenten der autonomen Ausgaben in \(A\) ändern, verschiebt sich die \(IS\)-Kurve. Bei gleichem Realzinssatz ergibt sich ein anderes gleichgewichtiges BIP. Ein negativer Nachfrageschock, z.B. aufgrund einer geringeren staatlichen Endnachfrage, würde einen niedrigeren Gleichgewichts-Output für jedes Niveau des realen Zinssatzes implizieren und somit eine Verschiebung der \(IS\)-Kurve nach links verursachen. Auch hier bestimmt die Größe des Multiplikators, wie weit sich die \(IS\)-Kurve als Reaktion auf einen Nachfrageschock verschiebt: je größer der Multiplikator, desto weiter verschiebt sich die \(IS\)-Kurve (Gleichung (7.1)). Die Veränderungen der Position und Steigung der \(IS\)-Kurve lassen sich am besten an einem interaktiven Beispiel veranschaulichen. In der interaktiven App am Ende dieses Kapitels können alle Determinanten der \(IS\)-Kurve frei gewählt werden, wodurch sich eine jeweils andere Lage der (inversen) \(IS\)-Kurve ergibt.

7.3 Wenn Zinspolitik ineffektiv ist - die vertikale IS-Kurve

Insbesondere in einer schweren Wirtschaftskrise, wie der Großen Depression von 1929, der Großen Rezession von 2007 - 2009 oder der aktuellen durch die Corona-Pandemie ausgelösten globalen Wirtschaftskrise ist die Steuerung der aggregierten Nachfrage durch die Zinspolitik erheblich eingeschränkt. Dieses Phänomen kann unter anderem mit dem theoretischen Konzept der „Investitionsfalle“ erklärt werden. Stark pessimistische Erwartungen hinsichtlich der künftigen wirtschaftlichen Bedingungen, der aggregierten Nachfrage und der Rentabilität der Investitionen führen dabei dazu, dass selbst eine deutliche Senkung des Zinssatzes kaum, oder sogar gar keinen, Anreizeffekt auf die Investitionen mehr hat.

Eine Situation, in der die Zinspolitik zur Nachfragesteuerung vollkommen ineffektiv ist, können wir mit dem einfachsten Einkommens-Ausgaben-Modell aus Kapitel 6 illustrieren. In diesem Modell ist der Realzins für das Gleichgewicht des Gütermarktes nicht relevant. Eine Änderung des Zinssatzes führt daher auch nicht zu einer Änderung des durch die \(IS\)-Kurve dargestellten Gütermarktgleichgewichts; die \(IS\)-Kurve kann in diesem Fall auch als zins-unelastisch bezeichnet werden. Wir werden unten auf die wirtschaftspolitischen Implikationen einer solchen \(IS\)-Kurve zurückkommen. Doch zunächst werden wir uns mit der grafischen Darstellung befassen.

Für das einfachste Einkommen-Ausgaben-Modell haben wir im letzten Kapitel das gleichgewichte BIP in Gleichung (6.5) als:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{\left(1 - c_Y \right)} \left( c_0 + \overline{I} + \overline{G} \right) \tag{6.5} \end{equation}\]

Der erste Ausdruck in (6.5) ist der Multiplikator und der zweite Ausdruck ist die Summe der einkommensunabhängigen Ausgaben. Offensichtlich gibt es in dieser Gleichung keinen Zinssatz. Das bedeutet, dass selbst wenn sich der Zinssatz in dieser Modellwirtschaft ändern würde, der Gleichgewichts-Output auf dem Wert bleibt, der durch die Gleichung (6.5) gegeben ist. Wir können dies durch eine vollständig zinsunelastische \(IS\)-Kurve darstellen, wie Abbildung 7.3 zeigt.

Abbildung 7.3: Die zinsunelastische IS-Kurve: der Realzins hat keinen Effekt auf die Nachfrage.

In Abbildung 7.3 ist der Zinssatz auf der vertikalen Achse dargestellt. Die horizontale Achse zeigt den Gleichgewichts-Output. Da der Gleichgewichts-Output unabhängig vom Zinssatz gebildet wird, ist die in der Abbildung dargestellte \(IS\)-Kurve vertikal. Es besteht daher keinerlei Zusammenhang zwischen dem Zinssatz und dem BIP. Das Gleichgewicht ist allein durch die Einflussfaktoren in Gleichung (6.5) gegeben. Wir haben hier wieder unser Zahlenbeispiel aus Kapitel 7 für die numerischen Werte verwendet. Dort hatte das Gleichgewichts-BIP den Wert 120 angenommen. Wie in der Abbildung zu sehen ist, würde eine Änderung des realen Zinssatzes diesen Wert nicht ändern.

Was bedeutet eine solche \(IS\)-Kurve nun für unser Wirtschaftspolitischen Instrumente? Ganz einfach: die Zinspolitik fällt bei einer zinsunelastischen \(IS\)-Kurve als Instrument aus. Die Zinspolitik der Zentralbank kann über eine Veränderung des Zinssatzes keinerlei Einfluss auf die gesamtwirschaftiliche Entwicklung nehmen. In solch einer Situtation ist die Fiskalpolitik also auf sich alleine gestellt, wenn es zum Beispiel um die Bewältigung eines negativen Nachfrageschocks geht. Nehmen wir dazu an, dass der autonome Konsum der Haushalte plötzlich fällt. Das gleichgewichtige BIP der Ökonomie sinkt in der Folge, was auch mit einem Rückgang der Beschäftigung einhergeht. Wie könnnen wir die Beschäftigung nun auf ihr altes Niveau zurückführen? Da die Zinspolitik bei einer vertikalen \(IS\)-Kurve ineffektiv ist, kann in diesem Modell nur eine wirtschaftspolitische Erhöhung der staatlichen Nachfrage dieses Ziel erreichen. In der folgenden App wird dies illustriert.


Der in diesem Abschnitt vorgestellte Fall der vollständig zinsunelastischen \(IS\)-Kurve stellt eine Ausnahmesituation dar. Sie ergibt sich in unserem Beispiel daraus, dass keine der Nachfragekomponenten auf eine Zinsänderung reagiert. Nur das einfachste Einnahmen-Ausgaben-Modell aus dem vorigen Kapitel schließt jeden Einfluss des Zinssatzes aus. In den weiteren Modellen werden wir nun einen Effekt der Zinspolitik auf die Gesamtnachfrage über die Investitionsfunktion integrieren.

7.4 Verzögerte Wirkung der Zinspolitik

Bisher sind wir davon ausgegangen, dass sich eine Änderung des Realzinses durch die Zentralbank unmittelbar auf die Investitionsnachfrage und damit gleichzeitig auch auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht auswirkt. In dem einfachen Modell mit zinsabhängigen Investitionen kann die Zentralbank also sofort effektiv, solange die Investitionen zinselastisch sind, auf einen Nachfragerückgang reagieren. In der Realität ist ein solcher unmittelbarer Effekt jedoch kaum zu erwarten. Vielmehr wird es einige Zeit dauern, bis sich eine Zinsänderung auf die Realwirtschaft auswirkt. Wir sprechen dann von einer verzögerten Zinsreaktion der Investitionsnachfrage (vgl. Abschnitt 4.2). In der Investitionsfunktion können wir dies durch ein sogenanntes „Wirkungs-Lag“ des Zinssatzes ausdrücken (Lag = Englisch: Verzögerung). Wir nehmen zum Beispiel an, dass Investitionen auf eine Zinsänderung mit einer Verzögerung von einer Periode reagieren (Gleichung (4.7)):

\[ I = a_a - a_r r_{-1}\] Der Term \(-1\) im Index des Realzinssatzes, \(r_{-1}\), zeigt an, dass dieser Realzinssatz der Wert der vorangegangenen Periode ist. Die Werte ohne Zeitindex, \(I, a_a\) und \(a_r\), beziehen sich auf die aktuelle Periode. Diese Investitionsfunktion zeigt also an, dass der aktuelle Wert der Investitionsnachfrage vom Zinssatz der vorherigen Periode abhängt.

Was sind: Leads, Lags und Zeitreihen?

In der Makroökonomik beschäftigen wir uns oft mit dynamischen Modellen. Dynamisch bedeutet in diesem Zusammenhang in erster Linie, dass ein Modell eine zeitliche Dimension hat. Die Variablen des Modells sind über die Zeit miteinander verknüpft. Nehmen wir die Werte des realen BIP als Beispiel. In jeder Zeitperiode wird unser Modell zu einem bestimmten Gleichgewicht führen. Dieses Gleichgewicht wird sich nur dann ändern, wenn sich eine Determinante des Gleichgewichts-BIP ändert. Zum Beispiel könnte die Regierung beschließen, die Staatsausgaben in der nächsten Periode zu reduzieren. Entsprechend wird das BIP in der nächsten Periode aufgrund der Ausgabenkürzungen niedriger sein als zuvor, vorausgesetzt, dass sich keine andere Determinante des BIP ändert.

Der Wert einer ökonomischen Variablen \(x\) zum Zeitpunkt \(t\) wird oft durch einen Index angegeben: \(x_t\). Der Wert des Outputs in der Periode \(t\) (z.B. \(t = 2020\)) würde also als \(Y_t = Y_{2020}\) bezeichnet werden. Dasselbe kann für einen Parameter angewendet werden, wenn er sich im Laufe der Zeit ändert. Da wir jedoch bereits so viele Indizes für jede einzelne Variable und jeden Parameter in unseren Modellen haben, vereinfachen wir die Notation und schreiben einfach \(x\) oder \(Y\) für den Wert in der aktuellen Periode (z.B. \(Y_{2020} = Y\)). Wenn wir über einen vergangenen oder zukünftigen Wert derselben Variable aus der Sicht der aktuellen Periode sprechen wollen, markieren wir diesen Wert mit einem Index \(-p\) oder \(+p\), wobei \(p\) die genaue Anzahl der Perioden angibt, die wir in die Vergangenheit oder Zukunft schauen. Wenn also das laufende Jahr 2020 ist, dann markieren wir den vergangenen Wert des BIP im Jahr 2019 mit \(Y_{-1}\) und den zukünftigen Wert des BIP im Jahr 2021 mit \(Y_{+1}\). Der vergangene Wert einer ökonomischen Variablen, in diesem Fall des BIP, \(Y_{-1}\), wird als Verzögerung (Lag) und der zukünftige Wert, \(Y_{+1}\), als Vorlauf (Lead) bezeichnet. Die Abfolge der Werte für mehrere aufeinanderfolgende Zeiträume (hier: \(Y_{-1},Y,Y_{+1}\) oder \(Y_{2019},Y_{2020},Y_{2021}\)) wird als „Zeitreihe“ bezeichnet.

Zeitnotation in Abbildungen

Oben haben wir Zeitnotation für die theoretische Darstellung des Modelles erstmal geklärt. Für die Zeitnotation in den Abbildungen folgen wir aber einer leicht geänderten Regel. Um den Zeitablauf in den Abbildungen deutlich zu zeigen, haben wir die verschiedenen Diagrammelemente (Kurven, Gleichgewichtswerte usw.) numerisch indexiert (z.B. \(\pi_0\), \(\pi_1\), \(\pi_2\), …), wobei die tiefgestellten Nummern die verschiedenen Runden der Modellsimulationen entsprechen. Für eine einmalige Kurvenverschiebung (z.b. nach einem Preissetzungsshock) verwenden wir die Beschriftung “alt” und “neu” (z.B. \(PS_{alt}\), \(PS_{neu}\)). Auf die Zeitnotation wurde dort verzichtet, wo sie nicht unbedingt notwendig sind.

Wenn wir diese neue Investitionsfunktion in unser bisheriges Modell einbauen, dann führt dies auch zu einer verzögerten Wirkung der Zinspolitik auf das gleichgewichtige BIP. Hierbei entsteht die Verzögerung durch die Reaktion der Investitionen, wie oben beschrieben. Sobald sich die Investitionen verändern, spielt sich dann der Multiplikatorprozess, der zum neuen Gleichgewicht führt, innerhalb einer Periode ab. Dies ist zwar etwas unrealistisch, reduziert aber die dynamische Komplexität unseres Modells, so dass wir es weiterhin mit relativ einfachen Methoden diskutieren können. Die Zentralbank muss daher bei ihren Zinsentscheidungen berücksichtigen, dass sie das BIP in der laufenden Periode nicht beeinflussen kann. Wenn die Wirtschaft beispielsweise einem negativen Nachfrageschock ausgesetzt ist, kann die Zentralbank durch eine Zinssenkung einen expansiven Impuls auslösen, dessen expansive Wirkung jedoch erst in der nächsten Periode wirksam wird. Die folgende interaktive Anwendung veranschaulicht diese Situation.

7.5 IS-Kurve mit nominalem Zinssatz

Bisher sind wir stillschweigend davon ausgegangen, dass die Zentralbank den realen Zinssatz direkt kontrollieren kann. In Wirklichkeit kontrolliert die Zentralbank jedoch nicht den Realzins, sondern den Nominalzins. Dies macht für die bisher diskutierte Modellwelt wenig Unterschied. Warum nicht? Um dies zu verstehen, können wir uns auf unsere Definition des Realzinses aus Abschnitt 4.2 beziehen. Dort haben wir gesehen, dass die Beziehung zwischen Nominal- und Realzinssatz durch die Differenz zwischen dem Nominalzinssatz, \(i\), und der Inflationsrate, \(\pi\), approximiert werden kann:

\[\begin{equation} r = i - \pi \tag{7.4} \end{equation}\]

In unseren bisherigen einfachen Gütermarktgleichgewichten sind wir jedoch davon ausgegangen, dass die Unternehmen auf eine Veränderung der Nachfrage mit Mengenanpassungen statt mit Preisänderungen reagieren. Diese Annahme ist in Gütermärkten, die durch unvollständigen Wettbewerb gekennzeichnet sind, kurzfristig durchaus realistisch. Mit dieser Annahme ist das Preisniveau in der ganz kurzen Frist also konstant und die Inflationsrate nimmt den Wert \(\pi = 0\) an. Dies bedeutet, dass es auf sehr kurze Sicht keinen Unterschied zwischen Real- und Nominalzinsen gibt. Wenn also die Zentralbank den Nominalzins ändert, ändert sich der Realzins in gleicher Weise.

Da wir jedoch in unserer Investitionsfunktion ein Lag des Zinssatzes eingeführt haben, ist es problematisch, die Annahme der sehr kurzen Frist beizubehalten. Wenn es eine gewisse Zeit dauert, bis sich eine Zinsänderung auf die Realwirtschaft auswirkt, könnte in der Zwischenzeit eine mehr oder weniger ausgeprägte Änderung des Preisniveaus eintreten (wir werden in Kapitel 9 sehen, wie dies geschehen kann). Die Inflationsrate würde dann nicht mehr bei Null liegen und es gäbe tatsächlich einen Unterschied zwischen Real- und Nominalzins. Es ist daher angebracht, diese Differenz in der Zinspolitik zu berücksichtigen.

Wir haben die bisherigen \(IS\)-Kurven für den Realzins gezeigt. Wenn es eine Differenz zwischen \(r\) und \(i\) gibt und die Zentralbank nur \(i\) direkt kontrollieren kann, dann benötigen wir für die Analyse unserer Zinspolitik eine zweite Darstellung der \(IS\)-Kurve mit dem Nominalzins. Die Differenz zwischen den beiden \(IS\)-Kurven ist die Inflationsrate, um deren Wert wir die \(IS\)-Kurve für die realen Zinssätze parallel verschieben müssen, um die \(IS\)-Kurve für den Nominalzinssatz abzuleiten. Grafisch können wir dies also ganz einfach wie in Abbildung 7.4 veranschaulichen.

Abbildung 7.4: IS-Kurve mit realem Zinssatz vs. IS-Kurve mit nominalem Zinssatz.

Die untere \(IS\)-Kurve zeigt Gleichgewichtswerte des realen BIPs in Bezug auf den Realzins. Die obere \(IS\)-Kurve verläuft parallel zur \(IS\)-Kurve für den Realzins, wobei der Abstand zwischen den beiden Kurven durch die Inflationsrate gegeben ist. Wir haben als Beispiel eine Inflationsrate von 2% angenommen. Wenn die Zentralbank nun die Wirtschaft in einer bestimmten Weise beeinflussen will, kann sie direkt an der oberen \(IS\)-Kurve erkennen, wie sich eine Änderung des Nominalzinssatzes auswirken würde, wenn die Inflationsrate bei 2% bleibt. In den meisten Fällen werden wir der Einfachheit halber nur eine der beiden \(IS\)-Kurven zeigen, aber die Existenz der einen Kurve impliziert immer die Existenz der anderen, und es ist daher wichtig, den Unterschied zu kennen.

Formal können wir diesen Unterschied leicht verstehen. Dazu können wir einfach die Annäherungsgleichung für den Realzinssatz, \(r=i-\pi\), in die \(IS\)-Kurve des Realzinssatzes aus Gleichung (7.2) einfügen, um die \(IS\)-Kurve des Nominalzinssatzes zu erhalten:

\[Y^* = A - \alpha r\] \[\begin{equation} Y^* = A - \alpha (i-\pi) \tag{7.5} \end{equation}\]

Die grafische Darstellung der IS-Kurve für den Nominalzins

Dass der Unterschied zwischen Realzins- und Nominalzins-\(IS\)-Kurve nur in einer Parallelverschiebung um die Inflationsrate, \(\pi\), besteht, können wir uns anhand der inversen \(IS\)-Kurve klarmachen. Diese erhalten wir für den Realzins durch Umstellen der Gleichung für den Gleichgewichtsoutput nach \(r\):

\[ r = \frac{A}{\alpha} - \frac{Y^*}{\alpha}\]

Setzen wir jetzt die \(i - \pi\) für \(r\) ein und stellen nach \(i\) um, erhalten wir die inverse Nominalzins-\(IS\)-Kurve:

\[ i - \pi = \frac{1}{\alpha}A - \frac{1}{\alpha}Y^*\] \[\begin{equation} i = \frac{1}{\alpha}A - \frac{1}{\alpha}Y^* +\pi \tag{7.6} \end{equation}\]

Der Unterschied zwischen beiden Kurven ist die Inflationsrate, \(\pi\), wie in der folgenden interaktiven Anwendung illustriert wird.


Zum Schluss illustriert diese interaktive Anwendung wie die Fiskal- und Geldpolitik auf einem Schock der Gesamtnachfrage reagieren können.

Weiterführende Literatur zu Kapitel 7

Lehrbücher:

References

Carlin, W. und D. W. Soskice. 2015. Macroeconomics: Institutions, Instability, and the Financial System. Oxford University Press.
Heine, M. und H. Herr. 2013. Volkswirtschaftslehre: paradigmenorientierte Einführung in die Mikro- und Makroökonomie. 4. Aufl. München: Oldenbourg.

  1. Man könnte natürlich auch an andere Nachfragekomponenten denken, die durch den Zinssatz beeinflusst werden könnten, z.B. kreditfinanzierter Konsum.↩︎