Kapitel 11 Wirtschaftspolitik im 3-Gleichungen-Modell des „Neuen Konsenses“ in der Makroökonomik

In den vorherigen Kapiteln haben wir versucht ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche grundsätzlichen Zusammenhänge und Mechanismen das Zustandekommen dreier zentraler gesamtwirtschaftlicher Größen erklären können. Diese drei makroökonomischen Variablen sind:

  • das Bruttoinlandsprodukt (\(Y\))
  • die Arbeitslosigkeit (\(U\)) bzw. die Beschäftigung (\(L\))
  • und die Inflationsrate (\(\pi\))

Zu diesem Zweck haben wir einfache Modelle der Nachfrage- und der Angebotsseite einer Modellökonomie entwickelt. Wir haben hierbei eine geschlossene Volkswirtschaft unterstellt. Die zentralen Elemente dieser Modelle können über die einzelnen Abbildungen der jeweiligen Modellkomponenten zusammengefasst werden. Die Abbildung 11.1 stellt das bisher entwickelte makroökonomische Gesamtsystem dar.

Abbildung 11.1: Das Neue-Konsens-Modell ohne Politikreaktionsfunktion.

Die Nachfrageseite wird durch die Elemente auf der linken Seite der Abbildung repräsentiert. Die Elemente der Angebotsseite finden sich auf der rechten Seite. Die zentralen zusammenfassenden Gleichungen des Modells sind die \(IS\)-Kurve und die Phillipskurve. Die realisierte Beschäftigung wird gemeinsam durch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Produktionsfunktion bestimmt. Das Verteilungsmarkgleichgewicht wird im \(WS-PS\)-Diagramm dargestellt. Die Darstellung hier zeigt ein allgemeines Gleichgewicht in allen Modellkomponenten, welches durch Angebots- oder Nachfrageschocks gestört werden kann.

Dieses System basiert auf einfachen Modellbausteinen, wie sie in den meisten einführenden Standardlehrbüchern für Makroökonomik zu finden sind (z.B. in Carlin und Soskice (2015, Kap. 1–3). Es ist weitestgehend kompatibel mit einer Mainstreamauffassung einfacher makroökonomischer Modelle der kurzen Frist. Die zentralen Bestandteile des Modells bilden dabei das \(IS\)-Kurvendiagramm, für die Nachfrageseite, und das Phillipskurvendiragramm für die Angebotsseite. Die anderen Modellkomponenten können gewissermaßen als verbindende Elemente dieser beiden Diagramme verstanden werden.

Die beiden Kerngleichungen dieses makroökonomischen Modells hatten wir folgendermaßen modelliert:

IS-Kurve (7.2):

\[Y^* = A - \alpha r\]

Phillipskurve (9.22):

\[\pi = \pi^e + k(L^* - L^N)\]

In diesem Kapitel wollen wir uns nun damit beschäftigen, wie die Wirtschaftspolitik unser Gesamtsystem bei Auftreten von exogenen Nachfrage- und Angebotsschocks beeinflussen kann. Das Ziel der Wirtschaftspolitik ist dabei, die Ökonomie auf einem hohen Niveau der Beschäftigung zu stabilisieren und gleichzeitig ein niedriges Niveau der Inflationsrate zu gewährleisten. Wir werden sehen, dass wir eine dritte Gleichung zur \(IS\)-Kurve und Phillipskurve hinzufügen können, welche eine optimale Politikreaktion beschreibt und das Modell damit zum 3-Gleichungen Modell des „Neuen Konsenses“ in der Makroökonomik (NKM) macht.

NKM: neu-klassisch oder neu-keynesianisch?

Das Neue Konsensmodell in der Makroökonomik beruht auf der neu-klassischen und neu-keynesianischen Makroökonomik der 1980er und 1990er Jahre und stellt eine Synthese aus beiden Ansätzen dar. Während das neu-klassische Modell unter der Annahme von rationalen Erwartungen und flexiblen Preisen zu dem Ergebnis kommt, dass die Ökonomie sich eigentlich immer im Vollbeschäftigungsgleichgewicht befinden muss, und daher staatlice Stabilisierungspolitik eigentlich unnötig ist, haben neu-keynesianische Autor*innen verschiedene mikroökonomische Ansätze präsentiert, die begründen, warum selbst bei Abwesenheit von staatlichen Eingriffen und Gewerkschaften Preise und Löhne nicht immer flexibel sind (vgl. Snowdon und Vane 2005, Kap. 5 und 7). Hieraus ergibt sich dann, dass zumindest kurzfristig unfreiwillige Arbeitslosigkeit entstehen kann und die staatliche Wirtschaftspolitik reale Effekte auf die Höhe von Produktion und Beschäftigung haben kann. Das Modell des Neuen Konsenses in der Makroökonomik hat damit eher neu-keynesianische als neu-klassische Eigenschaften (vgl. Clarida, Gali und Gertler 1999; Goodfriend und King 1997).

Unsere bisherige und folgende Darstellung ist dabei eng an Carlin und Soskice (2015, Kap. 1–3) angelehnt. Wie wir weiter unten sehen werden, lässt sich nämlich deren Modell durch einige wenige Veränderungen in den Annahmen und den Verhaltensgleichungen in ein Modell überführen, das post-keynesianisiche Ergebnisse liefert. Der Post-Keynesianismus ist dabei der Versuch, die wesentlichen Botschaften von John Maynard Keynes (1936) und Michal Kalecki (1954; 1987) für die moderne Makroökonomik nutzbar zu machen (vgl. Hein 2008, Kap. 6; King 2015; Lavoie 2006). Der wesentliche Unterschied des post-keynesianischen Ansatzes zum neu-keynesianischen besteht darin, dass das auf Keynes und Kalecki zurückgehende Prinzip der effektiven Nachfrage in der post-keynesianischen Theorie allgemein gilt, d.h. nicht nur in der kurzen Frist bei vorliegen von Preis- und Lohnstarrheiten. Nachfrageseitige Wirtschaftspolitik hat daher nicht nur kurzfristig Effekte auf die Höhe von Einkommen und Beschäftigung, wie in der neu-keynesianischen Theorie und im Neuen Konses, sondern auch langfristig.

Bevor wir uns dem Modell des NKM zuwenden, sollten wir uns jedoch zunächst klar machen, welche grundsätzlichen Möglichkeiten für eine wirtschaftspolitische Reaktion auf makroökonomische Schocks in dieser Modellwelt bestehen.

11.1 Wie kann die Politik auf Nachfrage- und Angebotsschocks reagieren?

Die in in Kapitel 10 eingeführten Schocks, ob positiv oder negativ, führen in der Modellökonomie ohne Eingreifen der Politik zu einem Prozess immer stärker zunehmender oder abnehmender Inflation. Die Wirtschaftspolitik sollte also nicht untätig bleiben, wobei der Handlungsdruck im Falle eines Nachfragerückgangs durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit noch zusätzlich erhöht wird. Doch welche wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten ergeben sich bei Angebots- oder Nachfrageschocks in dem Standardmodell?

Grundsätzlich kann die Wirtschaftspolitik das Geschehen in unserer Modellökonomie entweder über die Nachfrageseite oder über die Angebotsseite beeinflussen. Einem Schock könnte, unabhängig von seiner Ursache, prinzipiell über beide Politikkanäle begegnet werden. Dabei müssen wir allerdings unterscheiden, ob die Politik mit ihrer Reaktion versucht ein Inflationsziel bei einem gegebenen Verteilungsgleichgewicht und einer gegeben NAIRU zu erreichen oder ob die Politik auch das Verteilungsleichgewicht und damit die NAIRU an sich beeinflussen will. Im Standardmodell würde Letzteres nur über angebotsseitige Politikmaßnahmen erreicht werden können. Wir haben diese bereits oben in Kapitel 9.5 angesprochen und auch betont, dass angebotsseitige Maßnahmen auf dem Arbeits- und/oder Gütermarkt erst einmal nur die inflationsstabile Beschätigung erhöhen bzw. die NAIRU reduzieren, ohne dass damit automatisch auch die tatsächliche Beschäftigung steigt und die tatsächliche Arbeitslosenquote fällt. Denn letztere werden durch die effektive Nachfrage auf dem Gütermarkt bestimmt.

In diesem Kapitel werden wir uns nun auf nachfragenseitige Reaktionen der Wirtschaftspolitik konzentrieren. Diese stellen in der Regel ein schneller verfügbares Mittel dar als angebotsseitige Veränderungen, welche stattdessen oft mit eher langfristigen institutionellen Veränderungen (auf dem Gütermarkt und/oder dem Arbeitsmarkt, etc.) einhergehen. Bei makroökonomische Schocks ist ein schnelles Eingreifen besonders wichtig, da sich die Ökonomie infolge eines Schocks immer weiter von ihrem Ausgangspunkt entfernen kann; in unserem Grundmodell gilt dies jedoch nur für die Inflationsrate. Die notwendigen Anpassungskosten wachsen also mit der Zeit, die zwischen Schock und Politikreaktion liegt. Wir haben nun mit der Zentralbank (bzw. der Geldpolitik) und dem Finanzministerium (bzw. der Fiskalpolitik) zwei wirtschaftspolitische Institutionen, welche die aggregierte Nachfrage mit ihren jeweiligen Entscheidungen über den Zinssatz und die Staatsausgaben (und ggf. die Steuern, die wir hier jedoch erstmal nicht betrachten werden) direkt beeinflussen und so auf Schocks reagieren können. Eine aktive staatliche Steuerung der Nachfrage durch diese Politikbereiche, mit dem Ziel die Wirtschaft zu stabilisieren, wird auch als Nachfragemanagement bezeichnet. Doch wer sollte dieses Nachfragemanagement in Reaktion auf Schocks betreiben? Die Zentralbank? Das Finanzministerium? Oder Beide?

Werfen wir einen kurzen Blick zurück in die Geschichte der Makroökonomik und der stabilisierungspolitischen Empfehlungen unterschiedlicher Theorien (vgl. Hein 1998), so stellen wir fest, dass in den 1950er, 1960er Jahren und der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit der Dominanz der neoklassischen Synthese der Fokus auf einer antizyklischen Fiskalpolitik lag (vgl. Snowdon und Vane 2005, Kap. 3). Die Wirksamkeit von Geldpolitik wurde insbesondere in Krisen- und Rezessionsphasen als gering eingeschätzt, weil hier einerseits relativ schnell durch expansive Geldpolitik nicht zu unterschreitende Zinssätze erreicht werden können („Liquiditätsfalle“) und andererseits selbst bei fallenden Zinsen keine expansiven Effekte auf die Gütermarktnachfrage zu erwarten sind, da insbesondere Investitionen zinsunelastisch werden („Investitionsfalle“).

Dieser Fokus auf die Fiskalpolitik änderte sich in zweiten Hälfte der 1970er Jahre, den 1980er und 1990er Jahren mit der Dominanz des Monetarismus und dann der Neuklassik (vgl. Snowdon und Vane 2005, Kap. 4–5). Da hier davon ausgegangen wurde, dass Marktprozesse immer selbst zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht zurückführen, gab es für die Fiskalpolitik keine stabilisierungspolitische Aufgabe mehr und die Wirtschaftspolitik sollte sich vielmehr darum kümmern, durch angebotspolitische Maßnahmen die Gleichgewichtsarbeitslosigkeit selbst zu reduzieren. Für die Geldpolitik blieb die Aufgabe der Inflationssteuerung - hier noch durch eine adäquate Geldmengenpolitik als Politikinstrument der Zentralbank. Mit dem Aufkommen des Neu-Keynesianismus in den 1980er und 1990er Jahren (vgl. Snowdon und Vane 2005, Kap. 7) wurde jedoch der Optimismus in Frage gestellt, dass freie Märkte ohne staatliche Eingriffe (und auch Arbeitsmärkte ohne Gewerkschaftsmacht) durch flexible Preise immer schnell zum Gleichgewicht tendieren und sich daher automatisch immer Vollbeschäftigung einstellen wird. Im Neu-Keynesianismus und dann im Neuen Konsens der Makroökonomik ergibt sich daher kurzfristig eine stabilisierungspolitische Rolle der Geldpolitik, wobei nun der Zinssatz als wesentliches Politikinstrument begriffen wird. Dies ist auch in dem hier präsentierten 3-Gleichungen Modell von Carlin und Soskice (2015, Kap. 1–3) der Fall.

11.2 Die Zinspolitik der Zentralbank und makroökonomische Stabilisierung

In Übereinstimmung mit diesem Ansatz, der sich in den 90er-Jahren in vielen Ländern durchsetzte, werden wir uns hier also zunächst auf die Zentralbank als hauptverantwortlichen Akteur des Nachfragemanagements in Reaktion auf Nachfrage- oder Angebotsschocks konzentrieren. Dies eröffnet bereits ein Verständnis aktueller wirtschaftspolitischer Debatten, welche sich häufig um die Zinspolitik der Zentralbanken zur Steuerung der Ökonomie drehen, während sich die fiskalpolitische Diskussion heutzutage häufig auf das Einhalten eines mehr oder weniger „ausgeglichenen“ Staatshaushalts beschränkt.39 Wir werden allerdings später sehen, dass diese spezifische wirtschaftspolitische Rollenverteilung nur unter bestimmten Modellannahmen wirksam sein kann, die insbesondere nach der Finanzkrise von 2007-09, der Eurozonenkrise und in der aktuellen Corona-Krise immer wieder in Frage gestellt wurden und werden.

Die zentrale Rolle der Inflationserwartungen

In dem 3-Gleichungen Modell des NKM von Carlin und Soskice (2015, Kap. 1–3) bilden die Inflationserwartungen einen wichtigen Bezugspunkt für die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Zentralbank. Warum? In Kapitel 10 hatten wir gesehen, dass sowohl Nachfrage- als auch Angebotsschocks dazu führen, dass sich die Inflationserwartungen ständig steigen oder fallen und sich damit immer weiter von einem Zielwert der Zentralbank (\(\pi^T\)) entfernen werden. In unserem Modell führt dies dazu, dass sich die Phillipskurve immer weiter verschiebt und so zu immer stärker steigender beziehungsweise fallender Inflation und damit Lohn-Preis-Spiralen führt. An diesem Modell-Verhalten können wir bereits erkennen, dass die Inflationserwartungen eine zentrale Rolle bei der Reaktion der Zentralbank auf makroökonomische Schocks spielen müssen. Letztendlich muss es der Zentralbank darum gehen, die Inflationserwartungen wieder mit ihrem Inflationsziel in Einklang zu bringen.

Um zu verstehen, wie der Zentralbank eine solche Rückführung der Inflationserwartungen mit Hilfe der Zinspolitik gelingen kann, konzentrieren wir uns zunächst auf das Beispiel eines positiven Nachfrageschocks. Dieser kann zum Beispiel durch einen exogenen Anstieg des autonomen Konsums der privaten Haushalte ausgelöst worden sein. Zur Wiederholung illustriert Abbildung 11.2 dieses Szenario in unserem Gesamtmodell. Durch den positiven Nachfrageschock, der mit einer Rechtsverschiebung der \(IS\)-Kurve einhergeht, stellt sich bei einem unveränderten Zinsniveau eine höhere Beschäftigung ein, die zu steigenden Nominallohnforderungen führt. Auf der Phillipskurve ergibt sich daher eine über dem Zielwert liegende Inflationsrate.

Abbildung 11.2: Positiver Nachfrageschock.

In dieser Situation würde sich ohne einen Eingriff seitens der Politik eine immer stärker ansteigende Inflationsrate ergebenen, da sich die Inflationserwartungen, und mit ihnen die Phillipskurve, immer weiter nach oben verschieben würden. Was kann die Zentralbank tun?

Die bestmögliche Reaktion der Zentralbank ergibt sich nur, wenn die Zentralbank noch vor Abschluss der aktuellen Lohnrunde auf den Nachfrageschock reagieren könnte. Dann könnte sie den Nachfrageschock nämlich durch ein Anheben des Zinssatzes neutralisieren und somit einfach verhindern, dass sich die Inflationsrate überhaupt von ihrem Zielwert entfernt. In Abbildung 11.2 würde die Zentralbank also genau den Zinssatz wählen müssen, der auf der durch den Nachfragenschock nach rechts verschobenen \(IS\)-Kurve zu dem inflationsstabilisierenden Niveau der Beschäftigung führt. Im Einkommen-Ausgaben-Quadranten verschiebt sich die Nachfragekurve wieder in ihre ursprüngliche Position und das Verteilungsgleichgewicht wird nicht gestört.

Bei einer unverzüglichen Reaktion der Zentralbank mit einer unmittelbaren Nachfragewirkung würde sich also keinerlei weiteres Problem aus dem Nachfrageschock ergeben. Die Inflationsrate verbliebe bei ihrem Zielwert. Allerdings ist dies aus mindestens zwei Gründen kein sonderlich realistischer Fall. Erstens kann die Zentralbank den Nachfrageschock nicht (perfekt) vorhersehen und somit nur mit Verzögerung auf ihn reagieren. Der Anstieg der Nominallohnforderungen in der ersten Lohnrunde kann dann nicht verhindert werden und es entsteht die uns bekannte Dynamik durch die Veränderung der realisierten Inflationsrate und der Inflationserwartungen. Zweitens haben wir gesehen, dass der Zinssatz realistischer Weise nur eine verzögerte Wirkung auf die Investitionsnachfrage ausüben wird. Selbst wenn die Zentralbank also unverzüglich mit einer Zinsveränderung auf den Nachfrageschock reagieren könnte, so wird sich der Effekt dieser Reaktion auf die Nachfrage erst später einstellen. Der initiale Inflationsschub kann unter diesen Umständen also nicht direkt verhindert werden. Wir werden im Folgenden von dieser Konstellation ausgehen. Das heißt, die Zentralbank sieht den Schock nicht voraus, und die Investitionsnachfrage reagiert mit Verzögerung auf eine Änderung des Zinssatzes. Die erste Annahme bedeutet, dass die Zentralbank den Zinssatz erst nach einem Schock und nach dem Abschluss der jeweiligen Lohnrunde festlegt. Die zweite Annahme lässt sich mit einem Lag des Realzinses in der Investitionsfunktion und damit der \(IS\)-Kurve modellieren (siehe Kapitel 7.4):

\[\begin{equation} Y^* = A - \alpha r_{-1} \tag{11.1} \end{equation}\]

Diese beiden Annahmen führen also dazu, dass sich die Inflationserwartungen infolge des positiven Nachfrageschocks in jedem Falle verändern. Die Zentralbank muss daher einen Weg finden, die Inflationserwartungen über die Nachfragesteuerung zu stabilisieren und schließlich wieder zu ihrem Zielwert zurückzuführen. Doch wie könnte ihr dies prinzipiell gelingen?

Intuitiv können wir uns diese Frage am besten anhand der \(IS\)-Kurve und des Phillipskurvendiagramms wie in Abbildung 11.3 beantworten. Wobei wir die Phillipskurve mit Bezug zum Output, statt der Beschäftigung, darstellen, um die beiden Diagramme übereinander darstellen zu können.

Abbildung 11.3: Nachfrageschock im IS- und Phillipskurvendiagramm.

Wenn wir nun einen positiven Nachfrageschock beobachten, verschiebt sich die \(IS\)-Kurve im obigen Teil der Abbildung nach rechts. Beim aktuellen Zinssatz, den die Zentralbank mangels einer Vorhersage des Schocks nicht verändert hat, ergibt sich ein höheres Output- und Beschäftigungsniveau. Dies führt zu einer Erhöhung der Inflationsrate vom \(\pi_0\), wo die Inflationsrate gleich dem Inflationsziel, \(\pi^T\), ist, zu \(\pi_1\). Der Anstieg der Inflationsrate führt zu höheren Inflationserwartungen. Die Zentralbank hat nun den Schock beobachtet und kennt die neue Inflationserwartung, wenn wir von adaptiven Erwartungen im Privatsektor ausgehen. Die Zentralbank schätzt eine Phillipskurve, welche die Gesamtheit der von der Zentralbank korrekt erwarteten möglichen Kombinationen von Inflation und Beschäftigung bzw. Output in der Beschäftigung und die Inflationsrate nächsten Runde darstellt. Da die erste Runde noch nicht ganz abgeschlossen ist (der letzte Schritt ist die Festlegung des neuen Zinssatzes durch die Zentralbank), sprechen wir auch von der „vorhergesagten“ Phillipskurve der Zentralbank für die nächste Runde, also \(PC_2\).

Jetzt kann die Zentralbank mittels ihrer Zinssteuerung auf dieser vorhergesagten Phillipskurve (\(PC_2\)) einen Punkt wählen, der die Inflationserwartungen davon abhält, noch weiter anzusteigen und der mit dem Inflationsziel in Einklang steht. Auf der \(IS\)-Kurve, kann die Zentralbank den notwendigen entsprechenden Zinssatz ablesen und festlegen, der für die Rückführung von Output und Beschäftigung auf das Verteilungsgleichgewichtsniveau erforderlich ist, womit die Runde dann abgeschlossen wird. Die verzögerte Wirkung des neuen, höheren Zinssatzes wird dann in der nächsten Runde (Runde 2) spürbar. Der Output, die Beschäftigung und die Inflationsrate fallen, und in der Folge sinken auch die Inflationserwartungen. Die von der Zentralbank für die folgende Runde vorhergesagte Phillipskurve verschiebt sich in ihre ursprüngliche Position zurück und die Zentralbank kann auf dieser Kurve wieder einen Output wählen, der jetzt wieder dem langfristigen Gleichgewicht der Ökonomie entspricht und mit dem Inflationsziel einhergeht. Da die Inflationserwartungen in der zweiten Runde mit der tatsächlich realisierten Inflationsrate übereinstimmen, stabilisiert sich die Ökonomie auf dem ursprünglichen Niveau. In Abbildung 11.4 ist dieser Anpassungsprozess in drei Schritten dargestellt.

Abbildung 11.4: Schnellstmögliche Rückkehr zum Inflationsziel nach einem positiven Nachfrageschock.

Der erste Pfeil illustriert den Schock der zu einem initialen Anstieg der Inflationsrate führt. Der zweite Pfeil illustriert die Veränderung der Inflationserwartungen und die vorhergesagte Phillipskurve der Zentralbank. Der dritte Pfeil stellt die zinspolitische Reaktion der Zentralbank dar, die auf der neuen vorhergesagten Phillipskurve ein Niveau des Outputs herstellt, welches dem Inflationsziel entspricht. Nachdem die Zentralbank den gewünschten Zinssatz festgelegt hat und Runde 1 abgeschlossen ist, wird die in Runde 1 vorhergesagte Phillipskurve (\(PC_2\)) von der in Runde 2 aktuellen Phillipskurve ersetzt. Der selbe Verfahren wiederholt sich dann in Runde 2. Zum Schluss verschiebt sich die Phillipskurve daraufhin wieder in ihre ursprüngliche Position zurück und die Zentralbank kann ihre restriktive Politik beenden und wieder den langfristigen Gleichgewichtsoutput herstellen.

Natürlich können wir diesen Anpassungsprozess auch in unserem Gesamtmodell darstellen, wie Abbildung 11.5 zeigt.

Abbildung 11.5: Darstellung der Reaktion im Gesamtmodell.

Dieses erste Beispiel einer Zentralbankreaktion auf einen positiven Nachfrageschock zeigt, dass die Zentralbank ihr Inflationsziel also bereits zwei Runden nach dem Schock wieder erreichen kann. Die Voraussetzung dafür ist nur, dass sie den Zinssatz stark genug anhebt. Eine solche Reaktion der Zentralbank ist allerdings durchaus nicht unproblematisch.

Um die Wirkung des positiven Nachfrageschocks auf die Inflationsrate möglichst schnell zu neutralisieren, muss die Zentralbank den Output und damit die Beschäftigung deutlich unter das inflationsstabilisierende Niveau, \(L^N\), absenken. Die Zentralbank kann den Inflationsschub also nur durch eine deutliche Erhöhung der Arbeitslosenquote über das langfristige Gleichgewichtsniveau (NAIRU) bekämpfen, um möglichst schnell zum Inflationsziel zurückzukehren. Dies ist notwendig, um die im \(WS–PS\)–Diagramm verursachte Lohn-Preis-Dynamik umzukehren und die Inflationserwartungen schnell auf den Zielwert zurückzuführen. Der deutliche Anstieg der Arbeitslosenquote ist zwar nur temporär, aber er ist mit einem hohen Wohlfahrtsverlust und sozialen Kosten verbunden.

In der folgenden interaktiven Abbildung kann mittels der Zinspolitik auf einen Nachfrageschock reagiert werden. Dabei soll eine schnellstmögliche Rückkehr zum Inflationsziel erfolgen.


Aber muss die Zentralbank in der oben diskutierten Weise reagieren? Oder gibt es eine „sanftere“ Reaktionsmöglichkeit? Das hängt entscheidend davon ab, welche Ziele die Zentralbank verfolgt. Läge ihr Ziel einseitig bei der Durchsetzung des Inflationsziels, dann wäre die oben beschriebene Reaktion aus Sicht der Zentralbank optimal, da eine Begrenzung der Arbeitslosigkeit an sich kein wirtschaftspolitisches Ziel der Zentralbank wäre. Vielmehr wäre die Arbeitslosigkeit hier ein reines Mittel zum Zweck, mit dem alleinigen Ziel, die Inflationsrate konstant zu halten. Anders sieht es aus, wenn die Zentralbank auch die Effekte auf die Arbeitslosigkeit in ihre geldpolitische Strategie einbezieht.

11.3 Verschiedene Ziele der Zentralbank: die Zentralbankreaktionsfunktion und die geldpolitische Regel

Für eine Zentralbank, die neben dem Inflationsziel auch die Arbeitslosigkeit in ihre wirtschaftspolitische Reaktion mit einbezieht, ist die in Abschnitt 11.2 skizzierte Vorgehensweise keineswegs optimal. Stattdessen wird die Zentralbank versuchen, einen Mittelweg zwischen der möglichst raschen Wiederherstellung des Inflationsziels und der Vermeidung eines allzu hohen Anstiegs der Arbeitslosigkeit zu wählen. Dazu muss die Zentralbank die Wohlfahrtsverluste aus Schwankungen der Inflationsrate um das Inflationsziel und Schwankungen der Arbeitslosigkeit (bzw. der Beschäftigung oder des Outputs) um ihre inflationsstabilen Niveaus gegeneinander abwägen.

Tatsächlich können wir diese beiden Ziele mit einer Zielfunktion für die Zentralbank modellieren. Dies wird uns später helfen, eine optimale Reaktionsfunktion für die Zentralbank herzuleiten. Dafür definieren wir den „Verlust“ der Zentralbank, \(Loss\), als eine Funktion der Arbeitslosigkeit und der Inflationsrate:

\[\begin{equation} Loss = Loss \left( \text{Inflationsrate}, \text{Arbeitslosigkeit} \right) \tag{11.2} \end{equation}\]

Wenn wir davon ausgehen, dass sich die Arbeitsproduktivität nicht verändert, dann können wir den Verlust der Zentralbank auch als eine Funktion der Inflationsrate, \(\pi\) und des Outputs, \(Y\), definieren:

\[\begin{equation} Loss = Loss (Y, \pi) \tag{11.3} \end{equation}\]

Genauer genommen ist die Zentralbank jedoch an den Schwankungen dieser beiden Werte um die jeweiligen Zielwerte interessiert. Diese Schwankungen sind durch \((Y - Y^N)\) für den Output und \((\pi - \pi^T)\) für die Inflationsrate geben. Wir können die Verlustfunktion also noch genauer durch die Abweichungen der realisierten Werte von Inflation und Output von ihren Zielwerten modellieren. Wenn wir zusätzlich davon ausgehen, dass positive und negative Abweichungen den gleichen Verlust für die Zentralbank generieren, dann können wir diese Funktion auch explizit als die Summe der quadratischen Abweichungen von Inflationsziel und inflationsstabilisierendem Output schreiben.

\[\begin{equation} Loss = Loss (Y, \pi) = (Y - Y^N)^2 + (\pi - \pi^T)^2 \tag{11.4} \end{equation}\]

Das Quadrieren der Abweichungen führt ganz einfach dazu, dass sowohl negative, als auch positive Abweichungen einen höheren Verlust für die Zentralbank bedeuten. Der Verlust der Zentralbank wird demnach sowohl mit der Abweichung der Inflationsrate vom Inflationsziel, als auch mit Schwankungen des Outputs um das inflationsstabilisierende Niveau ansteigen. Der optimale Verlust von null wird somit nur dann erreicht, wenn beide Zielwerte erreicht werden.

In der in Gleichung (11.4) aufgeschriebenen Verlustfunktion gehen Inflations- und Outputschwankungen in gleicher Weise ein. Wir sprechen dann von einer gleichen „Gewichtung“ der beiden Ziele. Wir könnten jedoch auch annehmen, dass die Zentralbank eines der beiden Ziele als wichtiger ansieht. Zum Beispiel könnte die Zentralbank über einen Anstieg der Arbeitslosigkeit besorgter sein, als über einen Anstieg der Inflationsrate, oder andersherum. Eine unterschiedliche Gewichtung der Ziele können wir über einen positiven Gewichtungsparameter, \(\beta \geq 0\), folgendermaßen in unsere Verlustfunktion integrieren:

\[\begin{equation} Loss = Loss (Y, \pi) = (Y - Y^N )^2 + \beta ( \pi - \pi^T )^2 \tag{11.5} \end{equation}\]

Für die vorherige Verlustfunktion in Gleichung (11.4) hatten wir implizit angenommen, dass der Gewichtungsparameter genau gleich eins ist, \(\beta = 1\), dass also eine gleiche Gewichtung der Ziele vorliegt. Wenn \(\beta > 1\), dann ist die Zentralbank inflationsavers, Schwankungen der Inflationsrate generieren dann einen höheren Verlust als Schwankungen des Outputs bzw. der Arbeitslosigkeit. Ist \(\beta < 1\), so ist die Zentralbank arbeitslosigkeitsavers.

Unsere Verlustfunktion können wir uns nun auch grafisch veranschaulichen. Da der Verlust in zwei Variablen ansteigen kann (Inflation und Output) können wir ihn mittels einer dreidimensionalen Abbildung veranschaulichen. Dabei unterstellen wir für die numerischen Beispiele und Simulationen hier jedoch eine Vereinfachung, um die bisher verwendete Parameterkonstellation der anderen Modellelemente beibehalten zu können. Die einfache Verlustfunktion aus Gleichung (11.5) gilt nämlich nur dann, wenn der inflationsstabile Output auf 1 normiert ist. Für die numerische Simulation skalieren wir unseren Verlustparameter der Zentralbank dazu um den Faktor 100, wodurch die simulierte Verlustfunktion annäherungsweise Gleichung (11.5) folgt. Um die numerischen Ergebnisse des Verlustes der Zentralbank in den folgenden Abbildungen und Simulationen also nachrechnen zu können, muss der Parameter \(\beta\) mit dem Faktor 100 multipliziert werden.40

Abbildung 11.6: Verlustfunktion der Zentralbank.

Am „Boden“ der Abbildung 11.6 beträgt der Verlust 0. Dies ist der optimale Wert, welcher nur beim Inflationsziel und der inflationsstabilisierenden Beschäftigung erreicht wird. Für jeden höheren Verlust gibt es eine Reihe von Kombinationen aus Inflation und Output, die diesen spezifischen Verlustwert generieren können. Diese Kombinationen liegen auf den Ringen, welche wir erhalten würden, wenn wir auf horizontaler Ebene durch die Verlustfunktionen schneiden würden (oder, wenn wir von oben auf die Verlustfunktion schauen würden). Jeder diese Ringe repräsentiert ein spezifisches Verlustniveau und die Kombinationen von Inflation und Output, die diesen Wert generieren. Je höher das Verlustniveau ansteigt, desto größer wird auch der Durchmesser des jeweiligen Ringes.

Diese Ringe bezeichnen wir auch als Indifferenzkurven, da die Zentralbank bezüglich des Verlustes indifferent („gleichgültig“) gegenüber den verschiedenen Kombinationen aus Inflation und Output, die auf dem Ring liegen, ist. Auf dem Ring ist daher keine Kombination besser als eine andere.

Wir können die Indifferenzkurven nun auch in unsere Darstellung der Phillipskurve integrieren, da sie durch die Werte von Inflation und Output bestimmt werden. Die Abbildung 11.7 zeigt wieder die Situation kurz nach einem positiven Nachfrageschock. Zusätzlich haben wir nun aber die Indifferenzkurve, auf der diese spezifische Kombination von Inflation und Output liegt, in das Diagramm integriert. Alle anderen Punkte auf der dargestellten Indifferenzkurve hätten ebenfalls den gleichen realisierten Verlust generiert, sind aber aufgrund der Lage der kurzfristigen Phillipskurve nicht möglich.