Kapitel 6 Das Gütermarktgleichgewicht und der Multiplikator

In diesem Kapitel werden wir ein einfaches makroökonomisches Modell der Nachfrageseite entwickeln. Dazu benötigen wir zwei Hauptbestandteile: eine Gleichgewichtsbedingung und eine oder mehrere Verhaltensgleichungen. Dieses Modell dient dazu, die kurzfristigen Prozesse der Anpassung des Güterangebots an die Güternachfrage zu veranschaulichen. Die Gleichgewichtsbedingung ist erfüllt, wenn die Güternachfrage (\(Y_N\)) und das Güterangebot (\(Y\)) exakt gleich sind und daher keine Anpassungsprozesse mehr stattfinden. Der Gütermarkt befindet sich dann im Gleichgewicht:

\[\begin{equation} Y_N = Y \tag{6.1} \end{equation}\]

Diese Gleichgewichtsbedingung ist in Abbildung 6.1 dargestellt. Die orangefarbene Linie wird oft als 45°-Linie bezeichnet, weil sie mit beiden Achsen bei gleicher Achseneinteilung einen Winkel von genau 45° bildet. Entlang dieser Linie ist der Wert des Gesamtangebots auf der horizontalen Achse genau gleich dem Wert der Gesamtnachfrage auf der vertikalen Achse. Wenn sich die Wirtschaft also auf dieser Linie befindet, ist der Gütermarkt unserer Wirtschaft im Gleichgewicht. In dieser Situation stimmen die Pläne von Produzenten und Käufern genau überein, so dass es weder einen Nachfrage- noch einen Angebotsüberschuss gibt.

Abbildung 6.1: Gütermarktgleichgewicht.

Befindet sich die Ökonomie jedoch nicht auf dieser Linie, besteht ein Ungleichgewicht, und es wird ein entsprechender Anpassungsprozess in Gang gesetzt. Wie genau dieser Prozess abläuft, hängt dann von den Verhaltensgleichungen der Nachfragekomponenten ab (die wir noch auswählen müssen).

Da wir in diesem Kapitel nur an der Dynamik der aggregierten Nachfrage interessiert sind, gehen wir hier davon aus, dass das Güterangebot zunächst vollständig von der Nachfrage abhängt und sich an diese anpasst. Das Modell ist daher „nachfragegetrieben“. Dies ist eine grundlegende Idee keynesianischer Wirtschaftstheorie. Sowohl für post-keynesianische als auch für neu-keynesianische Ökonom*innen stellt diese Betrachtungsweise einen plausiblen Ansatz, zumindest für die kurze Frist dar. In den folgenden Abschnitten werden wir verschiedene Varianten dieses kurzfristigen Modells entwickeln, die sich insbesondere hinsichtlich der Anzahl und Komplexität der Verhaltensgleichungen unterscheiden. Wir werden uns dabei auf die in den Kapiteln 3 bis 5 ausgearbeiteten Verhaltensgleichungen der einzelnen Komponenten der aggregierten Nachfrage stützen. Für die einfachste Version dieses Modells, die wir im folgenden Abschnitt entwickeln werden, genügt es, wenn wir nur die einfache keynesianische Konsumfunktion verwenden und die übrigen Nachfragekomponenten als exogen betrachten.

In der kurzen Frist ist die Ökonomie nachfragegetrieben: das Güterangebot passt sich an die Güternachfrage an.

Abbildung 6.2: In der kurzen Frist ist die Ökonomie nachfragegetrieben: das Güterangebot passt sich an die Güternachfrage an.

6.1 Das einfache Einkommen-Ausgaben-Modell einer geschlossenen Ökonomie

In Kapitel 2 haben wir gesehen, dass die aggregierte Nachfrage in einer geschlossenen Ökonomie durch die Summe von Konsumnachfrage, Investitionsnachfrage und staatlicher Endnachfrage nach Waren und Dienstleistungen gegeben ist: \(Y_N = C + I + G\), wobei alle Variablen als Realgrößen, d.h. in konstanten Preisen angegeben sind. Wie oben beschrieben, befindet sich der Gütermarkt einer Ökonomie im Gleichgewicht, wenn genauso viel nachgefragt wie produziert und angeboten wird. Das heißt, dass im Gütermarktgleichgewicht die geplanten realen Ausgaben, also die aggregierte Nachfrage, \(Y_N\), exakt mit der realen gesamtwirtschaftlichen Produktion, \(Y\), übereinstimmt. Dabei ist \(Y\) gleichzeitig das gesamtwirtschaftliche Einkommen, da die Kosten und Gewinne, die bei der Produktion anfallen gleichzeitig das Einkommen der Produzenten, also Löhne und Gewinne, sind. Wir können die Begriffe Ausgaben, Produktion und Einkommen im Gleichgewicht daher synonym verwenden. Sie alle sind im Gleichgewicht identisch mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Der Gütermarkt folgender geschlossenen Ökonomie ist demnach im Gleichgewicht, wenn folgende Bedingung erfüllt ist:

\[\begin{equation} Y_N = C + I + G = Y \tag{6.2} \end{equation}\]

In diese Gleichgewichtsbedingung können wir nun unsere Verhaltensgleichungen für die einzelnen Komponenten der Nachfrage aus den Kapiteln 3 bis 5 einfügen. Für die einfachste Variante unseres Nachfragemodells berücksichtigen wir jedoch zunächst nur die einfache keynesianische Konsumfunktion (Gleichung (3.1) aus Kapitel 3:

\[C = c_a + c_Y Y\] Der Konsum ist also durch die Summe des konstanten autonomen Konsums, \(c_a\), und des einkommensabhängigen Konsums, \(c_Y Y\), gegeben. Die marginale Konsumneigung, \(c_Y\), liegt dabei zwischen 0 und 1, \(0 < c_Y < 1\). Bei Investitionen und Staatsausgaben gehen wir hier zunächst davon aus, dass diese vollständig exogen sind.22 Die Verhaltensgleichung des privaten Konsums und die exogenen Werte für Investitionen, \(\overline{I}\), und Staatsausgaben, \(\overline{G}\), können nun in Gleichung (2.1) der aggregierten Nachfrage für unsere geschlossene Ökonomie aus Kapitel 2 eingefügt werden:

\[\begin{equation} Y_N = c_a + c_Y Y + \overline{I} + \overline{G} \tag{6.3} \end{equation}\]

Diese Nachfragefunktion können wir nun wieder grafisch darstellen. Dazu wählen wir folgende Parameterkonstellation der Nachfragefunktion: für den autonomen Konsum: \(c_a = 30\), für die marginale Konsumneigung: \(c_Y = 0,5\), für Investitionen: \(\overline{I} = 10\) und für die Staatsausgaben: \(\overline{G} = 20\). Unsere Nachfragefunktion wird dann also zu:

\[Y_N = 30 + 0,5 \cdot Y + 10 + 20\] bzw.

\[Y_N = 60 + 0,5 \cdot Y\] Dieses numerische Beispiel der Nachfragefunktion wird in Abbildung 6.3 dargestellt:

Abbildung 6.3: Die Nachfragefunktion.

Die Abbildung 6.3 sollte uns in der Tat an die Darstellung unserer Konsumfunktion in Abbildung 3.3 erinnern. Die Abhängigkeit der Nachfrage vom Einkommen entsteht hier nämlich nur, weil der variable Teil des Konsums, \(c_Y Y\), vom Einkommen abhängt. Die anderen Nachfragekomponenten (autonomer Konsum, Investitionen und Staatsausgaben) sind völlig exogen und wirken sich daher nur auf die Konstante der Nachfragefunktion und damit auf deren Schnittpunkt mit der vertikalen Achse („Achsenabschnitt“) aus. Die Steigung der Nachfragefunktion - d.h. die marginale Abhängigkeit der Nachfrage vom Einkommen - ist hier, wie bei der Konsumfunktion, nur durch die marginale Konsumneigung gegeben.23

Mit der folgenden interaktiven Anwendung kann unsere einfache Nachfragefunktion nach Belieben verändert werden.

6.1.1 Das gleichgewichtige BIP

Wir wollen jetzt wissen, bei welchem BIP-Niveau der Gütermarkt unserer Wirtschaft im Gleichgewicht ist. Wir fragen also, bei welchem BIP unsere Gleichgewichtsbedingung (\(Y_N = Y\)) erfüllt ist. Wir können diese Frage auf formale Weise oder durch eine grafische Herleitung beantworten.

Grafische Herleitung

Für die grafische Herleitung müssen wir im Prinzip nur die grafische Darstellung der Gleichgewichtsbedingung aus Abbildung 6.1 und die der Nachfragefunktion aus Abbildung 6.3 zusammenführen. Es ergibt sich dann die Abbildung 6.4.

Abbildung 6.4: Gütermarktgleichgewicht im Einkommen-Ausgaben Modell.

Diese Abbildung stellt das Einkommen-Ausgaben-Modell der Nachfrageseite einer Ökonomie dar; es wird häufig auch als „keynesianisches Kreuz“ bezeichnet. Die blaue Linie ist unsere Nachfragefunktion in Abhängigkeit vom Einkommen und die orange Linie ist die Gleichgewichtsbedingung. Die orange Linie gibt gleichzeitig den Wert des Güterangebots an, da das Angebot mit dem gesamtwirtschaftlichen Einkommen (BIP) übereinstimmt. Das Gleichgewicht unserer Ökonomie ist durch den Schnittpunkt beider Linien gegeben.

Links von der Gleichgewichtssituation ist die Nachfrage höher als das Angebot, es besteht also ein Nachfrageüberschuss. Dagegen ist die Nachfrage rechts vom Gleichgewichtspunkt geringer als das Angebot und es besteht ein Angebotsübersschuss. Wenn unsere Ökonomie sich nicht im Gleichgewicht befindet, in der Abbildung 6.4 also entweder links oder rechts von der 45°-Linie, wie kommt sie wieder zurück ins Gleichgewicht?

Dies geschieht durch einen Anpassungsprozess, der zum sogenannten “Multiplikatoreffekt” führt. Wir beschreiben nun zuerst die formale Herleitung des Gleichgewichts und gehen dann auf die Anpassung zum Gleichgewicht und auf den Multiplikatoreffekt ein.

Formale Herleitung

Neben der grafischen Herleitung können wir das gleichgewichtige BIP auch formal über die Verhaltensgleichungen und die Gleichunggewichtsbedingung unseres Modells herleiten. Dazu müssen wir die Verhaltensgleichungen in die Gleichgewichtsbedingung einsetzen und dann nach der endogenen Variablen - hier also das Einkommen bzw. BIP - auflösen.

Wir setzen in die Gleichgewichtsbedingung aus (6.1), \(Y_N = Y\), also unsere Nachfragefunktion aus Gleichung (6.4), \(Y_N = c_a + c_Y Y^* + \overline{I} + \overline{G}\), ein. Um aber zu verdeutlichen, dass diese Gleichung nur im Gütermarktgleichgewicht gilt, haben wir das gleichgewichtige Einkommen bzw. BIP, \(Y^*\), mit einem kleinen Sternchen versehen.

\[\begin{equation} Y^* = c_a + c_Y Y^* + \overline{I} + \overline{G} \tag{6.4} \end{equation}\]

Diese Gleichung können wir jetzt Schritt für Schritt nach dem gleichgewichtigen BIP, \(Y^*\), umstellen, wir subtrahieren also \(c_Y Y^*\) auf beiden Seiten der Gleichung:

\[Y^* - c_Y Y^* = c_a + \overline{I} + \overline{G}\] und klammern dann \(Y^*\) auf der linken Seite aus:

\[Y^* \left(1 - c_Y\right) = c_a + \overline{I} + \overline{G}\] um schließlich beide Seiten durch \((1 - c_Y)\) zu teilen:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{\left(1 - c_Y \right)} \left( c_a + \overline{I} + \overline{G} \right) \tag{6.5} \end{equation}\]

Somit haben wir eine Gleichung für das BIP welches sich einstellt, wenn die Ökonomie sich im Gleichgewicht befindet. Doch wie genau funktioniert die Anpassung an dieses Gleichgewicht, wenn die Ökonomie sich nicht dort befindet?

6.1.2 Der Anpassungsprozess zum Gleichgewicht und der Multiplikator

Wie wir oben erwähnt haben, ist unser kurzfristiges Modell des Gütermarktes „nachfrageorientiert“, d.h. das Angebot auf dem Gütermarkt passt sich der Nachfrage auf dem Gütermarkt an. Wie geschieht dies nun?

Nehmen wir zum Beispiel an, wir befinden uns in einer Situation, in der die Nachfrage zunächst höher ist als das Angebot. Gehen wir, wie in Abbildung 6.4, davon aus dass die Ökonomie sich zunächst in einem Gütermarktgleichgewicht befindet und sich dann die Nachfragekurve nach oben verschiebt, weil die einkommensunabhängige Nachfrage gestiegen ist. Die Unternehmen werden auf den Nachfrageüberschuss mit einer Ausweitung der Produktion reagieren, so dass das Angebot zunächst auf den anfänglichen Wert auf der neuen Nachfragekurve steigt.

Die Produktionsausweitung bedeutet aber auch, dass das Einkommen der Wirtschaft steigt weil für die höhere Produktion mehr Arbeitskräfte eingestellt werden müssen, die dann natürlich auch Lohnzahlungen erhalten, und weil die Firmeninhaber durch höhere Verkäufe steigende Gewinne verzeichnen. Da die Nachfrage aber auch vom Gesamteinkommen abhängig ist (wegen des einkommensabhängigen Konsums), wird die positive Einkommensveränderung die Nachfrage über ihren Ausgangswert hinaus ansteigen lassen. Das bedeutet, dass die Anpassung des Angebots an den anfänglichen Nachfrageüberschuss wiederum zu einem weiteren Nachfrageüberschuss geführt hat! Die Unternehmen werden also ihre Produktion wieder an die Nachfrage anpassen, indem sie noch mehr produzieren. Aber dies führt wiederum zu einem höheren Einkommen, was wiederum zu einer höheren Nachfrage führt, usw..

Hört dieser Anpassungsprozess also nie auf?

Doch!24 Schließlich haben wir festgestellt, dass der Konsum zwar mit steigendem Einkommen zunimmt, dieser Anstieg des Konsums aber geringer ist als der Anstieg des Einkommens. Wir haben diese Annahme getroffen, indem wir die marginale Konsumneigung auf einen Wert zwischen \(0\) und \(1\) gesetzt haben: \(0< c_Y < 1\). Das bedeutet, dass in der zweiten Anpassungsrunde die Produktionsausweitung der Unternehmen ebenfalls geringer ist als in der ersten Runde. Somit werden Nachfrage- und Angebotsausweitung im Laufe des Anpassungsprozesses immer kleiner, bis das Angebot schließlich die Nachfrage „einholt“. Dann fallen Güternachfrage und Güterangebot wieder zusammen und die Wirtschaft ist wieder im Gleichgewicht.

Abbildung 6.5: Der Multiplikatoreffekt bei anfänglichem Nachfrageüberschuss (Play anklicken, um den Anpassungsprozess zu starten).

Der in Abbildung 6.5 illustrierte Anpassungsprozess läuft im Detail folgendermaßen ab:

  • Wir befinden uns in Abbildung 6.5 anfänglich links vom Gleichgewicht bei einer Nachfrage, \(Y_N\), von 80 und einem Angebot, \(Y\), von 40 (Situation 1 des Play-Sliders).

  • Das heißt wir haben einen anfänglichen Nachfrageüberschuss (\(Y_N - Y\)) von 40. Die Unternehmen werden also das Angebot um 40 ausweiten, \(\Delta Y = 40\), um die höhere Nachfrage zu bedienen (Situation 2 des Play-Sliders).

  • Der damit einhergehende Anstieg der Löhne und Profite und damit des Einkommens, \(Y\), auf 80 spiegelt sich aber wiederum in einer Erhöhung der Nachfrage um 20 auf 100 wider (\(\Delta Y_N = c_Y \cdot \Delta Y = 0,5 \cdot 40 = 20\)), da die einkommensabhängige Konsumnachfrage der Ökonomie steigt (Situation 3). Der neue Nachfrageüberschuss beträgt hier also 20 und ist damit kleiner, als der anfängliche Nachfrageüberschuss.

  • Die Unternehmen werden diesem Nachfrageüberschuss wiederum nachkommen und die Produktion und damit das Angebot um 20 ausweiten (Situation 4). Da die Produktionsausweitung durch eine Steigerung der Beschäftigung herbeigeführt wird, steigen auch wieder die Löhne und Profite und damit das Einkommen der Ökonomie um 20.

  • Dies führt abermals zu einem Anstieg der einkommensabhängigen Konsumnachfrage. Dieser erneute Nachfrageanstieg fällt aber wiederum etwas kleiner aus als der davor, weil die marginale Konsumneigung bei \(0,5\) liegt. Die Unternehmen werden die Produktion und damit die Beschäftigung wieder erhöhen, sodass das Einkommen wieder steigt.

  • usw. … Der entstehende Anpassungsprozess und die zugrundeliegende Kausalität werden in Abbildung 6.6 und 6.7 illustriert.

  • Der Anpassungsprozess endet schließlich wenn das Angebot sich wieder auf dem gleichen Niveau wie die Nachfrage befindet. Die Ökonomie befindet sich wieder im Gleichgewicht (\(Y^*\)).

Konzeptionelle Darstellung des Anpassungsprozesses.

Abbildung 6.6: Konzeptionelle Darstellung des Anpassungsprozesses.

Abbildung 6.7: Der Multiplikatoreffekt bei anfänglichem Nachfrageüberschuss: Anpassung nach einem Nachfrageschock.

Der bemerkenswerte Effekt des in den Abbildungen 6.5, 6.6 und 6.7 dargestellten Anpassungsprozesses besteht darin, dass die Nachfragesteigerung am Ende der Anpassung um ein Vielfaches höher ist als der Nachfrageüberschuss in der Ausgangssituation. Die gleichgewichtige Produktion ist also durch den Anpassungsprozess um ein Vielfaches des Nachfrageüberschusses erhöht, d.h. „vervielfacht“ oder „multipliziert“, worden. Dieser Effekt wird als „Multiplikatoreffekt“ bezeichnet und ist ein äußerst wichtiges Element makroökonomischer Überlegungen und wirtschaftspolitischer Diskussionen.

In den Abbildungen 6.5 und 6.7 beträgt der Wert der Nachfrage in der Ausgangssituation 80, während das BIP (d.h. Einkommen und Produktion) der Wirtschaft 40 beträgt. Das BIP steigt jedoch durch die Anpassung zum Gleichgewicht auf einen Endwert von 120 an. Der anfängliche Nachfrageüberschuss von 40 hat zu einem Gesamtanstieg (anfänglicher Überschuss + Anpassung) der Nachfrage um 80 Einheiten (80/40 = 2) geführt. Der anfängliche Nachfrageüberschuss wurden also mit dem Faktor \(\mu\) = 2 multipliziert. Aber wie wird dieser Faktor (der Multiplikator) bestimmt?

Wir können den Multiplikator wie folgt aus Gleichung (6.5) herleiten, indem wir das Gleichgewichtseinkommen nach einer der autonomen Ausgabenkomponenten ableiten:25

\[\begin{equation} \mu = \frac{dY^{*}}{dI} = \frac{dY^{*}}{dc_a} = \frac{dY^{*}}{dG} = \frac{1}{1-c_Y} \tag{6.6} \end{equation}\]

Der Multiplikator wird in unserem einfachen Modell also allein durch die marginale Konsumneigung (\(MKN\)), \(c_Y\), bestimmt. Durch Einsetzen des Wertes der von uns oben festgelegten \(MKN\) von \(c_Y = 0,5\) in Gleichung (6.6) ergibt sich für den Multiplikator ein Wert von 2, also genau der Wert, den wir bereits oben berechnet hatten. Aus Gleichung (6.6) ist auch ersichtlich, dass der Multiplikator größer wird, wenn die \(MKN\) steigt (Abbildung 6.8). Beispielsweise würde der Multiplikator bei einer \(MKN\) von \(0,8\) auf 5 steigen. Andersherum gilt, dass sich der Multiplikator verringert, wenn die \(MKN\) fällt. Bei einer \(MKN\) von \(0,2\) wäre der Multiplikator nur noch 1,25.

Je höher die marginale Konsumneigung der Haushalte, desto größer der Multiplikator.

Abbildung 6.8: Je höher die marginale Konsumneigung der Haushalte, desto größer der Multiplikator.

6.2 Steuern im Einkommen-Ausgaben-Modell

6.2.1 Staatsausgabenmultiplikator bei einkommensunabhängigen Steuern

Jetzt wollen wir die Besteuerung in unser Modell einführen. Insbesondere wollen wir untersuchen, wie sich die Einführung von Steuern auf den Multiplikator auswirkt, den wir im vorigen Absatz hergeleitet haben. Wie wir in Kapitel 3.2 gesehen haben, können wir hier damit beginnen, die Besteuerung (\(T\)) als einen Pauschalbetrag einzuführen, der von der Höhe des Einkommens unabhängig ist. Unsere Konsumfunktion wird dadurch zu Gleichung (3.7):

\[C = c_a + c_Y (Y - T)\] Setz man diese Funktion in die Gleichgewichtsbedingung (6.2) des einfachen Einkommen-Ausgaben-Modells ein, so erhält man den folgenden Gleichgewichtswert:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{(1 - c_Y)}(c_a - c_Y T + \overline{I} + \overline{G}) \tag{6.7} \end{equation}\]

In diesem Fall hat sich der Staatsausgabenmultiplikator \(\mu\) gegenüber Gleichung (6.18) nicht geändert. Nur der Ausdruck \(- c_Y T\) wurde in (6.7) in Klammern aufgenommen. Wir können nun den Steuermultiplikator \(\mu_T = \frac{dY^*}{dT}\) ableiten, d.h. wir können sehen, wie sich das gleichgewichtige Einkommen \(Y^*\) ändert, wenn der Staat die Steuern verändert:

\[\begin{equation} \mu_T = - \frac{c_Y}{(1 - c_Y)} \tag{6.8} \end{equation}\]

Eine Erhöhung der Steuern (\(\Delta T>0\)) wirkt sich negativ auf das Gleichgewichtseinkommen aus, während eine Senkung der Steuern (\(\Delta T<0\)) genau den gegenteiligen Effekt hat. Wir können auch feststellen, dass der absolute Wert des Steuermultiplikators niedriger ist als der des Multiplikators der öffentlichen Ausgaben. Wenn wir bei einer marginale Konsumneigung von \(0,5\) die öffentlichen Ausgaben um 1 Mio. Euro erhöhen (\(\Delta G = 1\)), erhalten wir eine Erhöhung des Gleichgewichtseinkommens um 2 Mio. Umgekehrt, wenn der Staat beschließt, die Wirtschaft durch eine Steuersenkung von 1 Mio. Euro anzukurbeln (\(\Delta T = - 1\)), steigt das Volkseinkommen nur um 1 Mio.

Nehmen wir nun an, dass die Regierung Haushaltsdefizite vermeiden muss und die Staatsausgaben (\(G\)) vollständig durch Steuereinnahmen (\(T\)) finanziert werden. Es gilt also, \(G = T\). Welche Auswirkungen hat eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben nun auf das Gleichgewichtseinkommen? Wir setzen nun die Bedingung für einen ausgeglichenen Staatshaushalt (\(G = T\)) in die Gleichung des Gleichgewichtseinkommens ein:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{(1 - c_Y)} \Big(c_a + \overline{I} + \overline{G} - c_Y \overline{G}\Big) \tag{6.9} \end{equation}\]

Hieraus erhalten wir:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{(1 - c_Y)}\left(c_a + \overline{I} + \left(1 - c_Y \right)\overline{G} \right) \tag{6.10} \end{equation}\]

Den Multiplikator für steuerfinanzierte öffentlichen Ausgaben, \(\mu_{H_{G = T}}\), erhalten wir wieder durch Ableitung nach \(G\):

\[\begin{equation} \mu_{H_{G = T}} = \frac{(1 - c_Y)}{(1 - c_Y)} = 1 \tag{6.11} \end{equation}\]

Eine budgetsaldoneutrale Ausgabepolitik hat also eine positive Auswirkung auf das gleichgewichtige BIP, die genauso groß ist wie die steuerfinanzierte Ausgabenerhöhung selbst: Der Multiplikator (\(\mu_H\)) ist gleich eins wenn \(G = T\). Dieses Ergebnis ist als Haavelmo-Theorem bekannt nach dem norwegischen Wirtschaftswissenschaftler Trygve Haavelmo (1945). Wie lässt sich die expansive Wirkung steurfinanzierter staatlicher Ausgaben erklären? Durch Besteuerung entzieht der Staat dem Haushaltssektor Einkommen, dass nur zum Teil verausgabt werden würde, denn die marginale Komsumquote ist kleiner als eins. Der Staat hingegen verausgabt die Steuereinnahmen unter Annahme von \(G = T\) komplett. Hierdurch erhalten wir dann den expansiven Effekt auf das Gleichgewichtseinkommen.

6.2.2 Staatsausgabenmultiplikator bei einkommensabhängigen Steuern

Im Kapitel 3.2 hatten wir die Besteuerung in einem zweiten Schritt als konstanten Anteil des Einkommens, \(t Y\), in die Konsumfunktion eingeführt, wobei für den Nettosteuersatz \(0 < t < 1\) gilt. Wir können die beiden Steuerkategorien nun kombinieren und erhalten eine Steuerfunktion, die sich aus einem festen und einem einkommensabhängigen Teil zusammensetzt:

\[\begin{equation} T = T_a + tY \tag{6.12} \end{equation}\]

Der Wert des Gleichgewichtseinkommens wird damit zu:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{\big(1 - c_{Y_d}(1 - t)\big)}\Big(c_a - c_{Y_d} T_a + \overline{I} + \overline{G} \Big) \tag{6.13} \end{equation}\]

Den folgenden Multiplikator erhalten wir für eine Änderung der einkommensunabhängigen Steuern, \(T_a\):

\[\begin{equation} \mu_{T_a} = - \frac{c_{Y_d}}{\big(1 - c_{Y_d}(1 - t)\big)} \tag{6.14} \end{equation}\]

Wir haben bereits im Kapitel 3.2 gesehen, dass die Einführung einer einkommensabhängigen Besteuerung den Anstieg der Konsumfunktion in Bezug auf das gesamtwirtschaftliche Einkommen (\(\frac{dC}{dY} = c_Y = c_{Y_d} (1-t)\)) verringert, weil ein Teil des Einkommens vom Staat entzogen wird. In diesem Fall wird der Haavelmo-Multiplikator einen Wert kleiner als 1 annehmen:

\[\begin{equation} \mu_{H_{G = T_a}} = \frac{1 - c_{Y_d}}{\big(1 - c_{Y_d}(1 - t)\big)} < 1 \tag{6.15} \end{equation}\]

Nehmen wir an, \(c = 0,5\) und \(t = 0,1\). Wenn die Regierung die Ausgaben (\(\Delta G\)) um 5 Mio. Euro erhöht und diese zusätzlichen Ausgaben vollständig durch eine Erhöhung der einkommensunabhängigen Steuern (\(\Delta T_a\)) finanziert, steigt das Gleichgewichtseinkommen um etwa 4,54 Mio. Euro, also um weniger als der fiskalische Stimulus von 5 Mio.

Wir können nun noch einmal das gesamte Einkommen-Ausgaben Modell mit einkommensabhängigen Steuern zusammenfassen. Das Modell besteht nun aus den folgenden Gleichungen.

  • Aggregierte Nachfrage (2.1): \[Y_N = C + I + G\]
  • Konsumfunktion (3.7): \[C = c_a + c_{Y_d} (Y - T)\]
  • Steuerfunktion (6.12): \[T = T_a + tY \]
  • Investitionen (4.1): \[I = \overline{I}\]
  • Staatsausgaben (5.1): \[G = \overline{G}\]
  • Gleichgewichtsbedingung (6.1): \[Y_N = Y\]

Die grafische Darstellung des Gleichgewichts in der Abbildung 6.9 unterscheidet sich von der vorherigen in Abbildung 6.4 nur dadurch, dass in in der Abbildung 6.9 sowohl die Steigung als auch der Achsenabschnitt der Nachfragekurve kleiner sind. Dies ist auf die Einführung der Steuerfunktion (6.12) zurückzuführen. Wie wir bereits gelernt haben, verringern die Steuern als konstanter Anteil des Einkommens die marginale Konsumneigung aus dem gesamtwirtschaftlichen Einkommen und dadurch die Steigung der Nachfragekurve. Der einkommensunabhängige Teil der Steurfunktion reduziert den unabhängigen Teil der Gesamtnachfrage und dadurch den Schnittpunkt der Kurve mit der vertikalen Achse.

Abbildung 6.9: Gütermarktgleichgewicht im Einkommen-Ausgaben Modell mit einkommensabhängiger Besteuerung.

Eine höhere Nettobesteuerung des Einkommens der Haushalte vermindert den Ausgaben-Multiplikator.

Abbildung 6.10: Eine höhere Nettobesteuerung des Einkommens der Haushalte vermindert den Ausgaben-Multiplikator.

6.3 Beschäftigung und Fiskalpolitik im Einkommen-Ausgaben-Modell

In unserer obigen Diskussion der Anpassung zum Gleichgewicht haben wir es bereits mehrmals beiläufig erwähnt: Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen in unserer einfachen keynesianischen Modellökonomie hängt von der Güternachfrage ab. Bei gegebener Zahl der Erwerbspersonen (also Personen, welche entweder bereits einer Beschäftigung nachgehen oder eine Beschäftigung suchen) wird die Arbeitslosigkeit bzw. die Beschäftigung also von der Güternachfrage bestimmt. Diesen Zusammenhang zwischen gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und Beschäftigung können wir nun auch in unserem Modell darstellen.

Dazu nehmen wir zunächst vereinfacht an, dass für die Herstellung einer Gütereinheit genau eine Arbeitskraft benötigt wird. Damit stellen wir also einen simplen Zusammenhang zwischen Produktion, \(Y\), und der Nachfrage nach Arbeitskräften, \(L\), her. Diesen Zusammenhang können wir als einfache Produktionsfunktion bezeichnen. In diesem Beispiel ist die Produktionsfunktion einfach nur durch \(Y = L \frac{Y}{L}\) gegeben, wobei \(\frac{Y}{L}\) als Arbeitsproduktivität bezeichnet wird, die angibt, wieviele Outputeinheiten pro Arbeitseinheit (Stunde, Tag, Woche oder Jahr) produziert werden. Wenn \(\frac{Y}{L} = 1\), wenn also eine/r Beschäftigte/r pro Zeiteinheit genau eine Outputeinheit produziert, dann ist26:

\[\begin{equation} Y = L \tag{6.16} \end{equation}\]

Die Abbildung 6.11 kombiniert unser Gütermarktgleichgewicht (das Einkommen-Ausgaben-Modell) mit der zur Herstellung des BIPs nötigen Beschäftigung, wobei sich das Gütermarktgleichgewicht auf der linken Seite befindet, während rechts die Produktionsfunktion mit dem korrespondierenden Beschäftigungsniveau dargestellt ist:

Abbildung 6.11: Gütermarktgleichgewicht mit gleichgewichtiger Beschäftigung.

Die entscheidende Erkenntnis ist hier, dass eine Veränderung der aggregierten Nachfrage in unserem Modell Beschäftigungseffekte haben wird; eine zentrale Aussage keynesianischer Theorie. Steigt die Güternachfrage, so steigt die Beschäftigung und es sinkt die Arbeitslosigkeit; fällt die Güternachfrage hingegen, so wird die Beschäftigung fallen und die Arbeitslosigkeit ansteigen.

Bei gegebenem Zusammenhang zwischen Produktion und Arbeitseinsatz bestimmt die Güternachfrage die Beschäftigung.

Abbildung 6.12: Bei gegebenem Zusammenhang zwischen Produktion und Arbeitseinsatz bestimmt die Güternachfrage die Beschäftigung.

Gehen wir davon aus, dass die Zahl der arbeitswilligen Personen in unserem Beispiel 160 Personen beträgt, dann ist die Arbeitslosenquote im Gleichgewicht 25%, weil nur 120 der 160 arbeitswilligen Personen tatsächlich beschäftigt werden können \((\text{Arbeitslosenquote} = ( 160 - 120 ) /160 \cdot 100 = 25 \%)\). In unserem einfachen Modell kann die Politik daher über die Staatsausgaben, \(\overline{G}\), die Nachfrage und damit auch die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit beeinflussen, wobei wir hier annehmen, dass der Staat auch über Kredit finanzierte Staatsausgaben tätigen kann (wobei wir jedoch von Zinszahlungen abstrahieren). Der Einsatz der Staatsausgaben und der Staatseinnahmen durch die Regierung wird als Fiskalpolitik bezeichnet. In unserem Beispiel sollte eine Wirtschaftspolitik, die Vollbeschäftigung zum Ziel erklärt, daher fiskalpolitische Maßnahmen ergreifen, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Die Regierung müsste also die Staatsausgaben erhöhen oder die Steuern senken, was als „expansive“ Fiskalpolitik bezeichnet wird. Die wichtige Rolle der Staatsausgaben und der Besteuerung für die Gesamtnachfrage und die Beschäftigung ist auch der Grund, warum der Multiplikator für die Wirtschaftspolitik von besonderem Interesse ist. Schließlich bestimmt er, wie stark die Nachfrage, Produktion und Beschäftigung auf eine Veränderung der Staatsausgaben und der Besteuerung reagiert. Wie wir bereits oben erwähnt haben, ist der absolute Wert des Staatsausgabenmultiplikators dabei größer als der des Steuermultiplikators.

Mit der folgenden App kann die Rolle der Regierung übernommen werden. Ziel dabei ist die Vollbeschäftigung. Kann durch Veränderung der Staatsausgaben und der Besteuerung Vollbeschäftigung hergestellt werden? Wie wirkt sich eine Veränderung des Multiplikators auf die zur Vollbeschäftigung notwendige Fiskalpolitik aus? Je höher die anderen Komponenten der aggregierten Nachfrage, desto weniger muss das Finanzministerium die Wirtschaft stimulieren, um Vollbeschäftigung herzustellen.27


Natürlich ist die Realität wesentlich komplexer als dieses einfache Einnahmen-Ausgaben-Modell, und es wird daher für die Politik weitaus schwieriger sein, eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu betreiben, die neben der Vollbeschäftigung natürlich auch andere Ziele und Aufgaben hat. Zudem kann der so genannte „fiskalische Spielraum“, d.h. die Fähigkeit der Regierung, die Staatsausgaben zu erhöhen oder die Steuern zu senken, eingeschränkt sein oder aus anderen Gründen nicht genutzt werden. Im Laufe des Buches werden wir weitere wirtschaftspolitische Ziele identifizieren und komplexere Modelle entwickeln. Unser einfaches Modell zeigt jedoch sehr schön, dass die Nachfrage und damit die Fiskalpolitik eine Auswirkung auf die Beschäftigung haben. Das bedeutet nicht nur, dass der Staat die Arbeitslosigkeit reduzieren kann, sondern auch, dass die Arbeitslosenquote steigt, wenn der Staat die Ausgaben kürzt, ohne die (Arbeits-)Nachfrage durch andere Maßnahmen oder Effekte zu stabilisieren. Entsprechend kann ein staatlicher Nachfrageausfall schnell zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Die Rolle des Staates bei der Steuerung der Arbeitsnachfrage wurde während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 und der anschließenden Euro-Krise besonders deutlich. Als Reaktion auf die Finanzkrise hatten viele Länder zunächst eine expansive Fiskalpolitik betrieben, um den durch den krisenbedingten Nachfragerückgang verursachten Anstieg der Arbeitslosigkeit abzumildern. In den folgenden Jahren gingen einige Länder jedoch zu einem fiskalischen Sparkurs über. Dies führte in vielen Ländern zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, da der durch den Sparkurs bedingte Nachfrageausfall des Staates nicht ausreichend durch andere Nachfragekomponenten kompensiert wurde (vgl. Hein 2013).

6.4 Zinsreagible Investitionen im Einkommen-Ausgaben-Modell

Bisher haben wir für unser einfaches Einkommen-Ausgaben-Modell eine sehr einfache Nachfragefunktion angenommen, in der die einzigen endogenen Variablen der private Konsum und die Steuern waren. Die Staatsausgaben und die Investitionen haben wir als völlig exogen angenommen. In diesem Abschnitt werden wir nun ein erweitertes, aber dennoch sehr einfaches Nachfragemodell entwickeln. Die einzige Änderung gegenüber dem Modell des vorherigen Unterkapitels wird die Annahme einer Investitionsfunktion sein, bei der die Investitionen vom Realzins abhängen. Der Realzins wird hierbei als exogene Variable angenommen, die wesentlich von der Zinspolitik der Zentralbank und ggf. von der Situation auf dem Kreditmarkt bestimmt wird, die hier nicht analysiert wird.28 Wir betrachten dabei die Staatsausgaben (\(\overline{G}\)) weiterhin als exogen und sehen zur Vereinfachung hier auch von der Besteuerung ab.

In Kapitel 4 haben wir gesehen, dass der Realzinssatz (\(r\)) die Investitionsnachfrage beeinflussen kann.29 Die Investitionen reagieren also auf Änderungen des Zinssatzes. Wir haben eine Investitionsfunktion aufgestellt, die aus einem konstanten Term, \(a_a\) (autonome Investitionen oder “Animal Spirits”), und einem zinsabhängigen Term, \(-a_r r\), besteht, wobei \(a_r\) die Zinssensitivität der Investition angibt. Das negative Vorzeichen vor dem zweiten Term bedeutet, dass die Investitionsnachfrage bei steigenden Zinsen abnimmt. Die Investitionsfunktion lautet somit:

\[\begin{equation} I = a_a - a_r r, \tag{4.6} \end{equation}\]

wobei \(a_r > 0\).

Unser Einkommen-Ausgaben-Modell mit zinsreagiblen Investitionen besteht nun also aus den folgenden Gleichungen und wird in Abbildung 6.13 dargestellt:

  • Aggregierte Nachfrage (2.1): \[Y_N = C + I + G\]
  • Konsumfunktion (3.1): \[C = c_a + c_Y Y\]
  • Investitionsfunktion (4.6): \[I = a_a - a_r r\]
  • Realzins: \[r = \overline{r}\]
  • Staatsausgaben (5.1): \[G = \overline{G}\]
  • Beschäftigung (6.16): \[L = Y\]
  • Gleichgewichtsbedingung (6.1): \[Y_N = Y\]

Abbildung 6.13: Die Nachfragefunktion mit zinsreagiblen Investitionen.

Durch Einsetzen der Gleichungen (3.1), (4.6), (5.1) und des exogenen Zinssatzes in Gleichung (2.1) erhalten wir für die Nachfragefunktion:

\[\begin{equation} Y_N = c_a + c_Y Y + a_a - a_r r + \overline{G} \tag{6.17} \end{equation}\]

Unter Verwendung der Gleichgewichtsbedingung (6.1) für den Gütermarkt können wir nun wieder das gleichgewichtige BIP, \(Y^*\), formal und grafisch herleiten.

Formale Herleitung

Nachfragefunktion (6.17) wird in die Gleichgewichtsbedingung (6.1) (\(Y_N = Y = Y^*\)) eingesetzt:

\[Y^* = c_a + c_Y Y^* + a_a - a_r r + \overline{G}\] \(c_Y Y^*\) wird von beiden Seiten der Gleichung subtrahiert:

\[Y^* - c_Y Y^* = c_a + a_a - a_r r + \overline{G}\] und dann \(Y^*\) auf der linken Seite ausgeklammert:

\[Y^* \left(1 - c_Y\right) = c_a + a_a - a_r r + \overline{G}\] um schließlich beide Seiten durch \((1 - c_Y)\) zu teilen:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{\left(1 - c_Y \right)} \left( c_a + a_a - a_r r + \overline{G} \right) \tag{6.18} \end{equation}\]

Somit haben wir mit (6.18) wieder eine Gleichung für das BIP (bzw. die Produktion oder das Einkommen) welches sich im Gütermarktgleichgewicht einstellt. Der Multiplikator, \(\mu = \frac{1}{\left(1 - c_Y \right)}\), ist auch hier wieder enthalten und definiert das gleichgewichtige BIP als ein Vielfaches der einkommensunabhängigen Nachfragekomponenten, welche hier durch den exogenen autonomen Konsum, \(c_a\), die autonomen und die vom Zinssatz abhängigen Investitionen, \(a_a - a_r r\), und die exogenen Staatsausgaben, \(\overline{G}\), gegeben sind. Der Unterschied zwischen unserem leicht erweiterten Einkommen-Ausgaben-Modell und dem einfachen Modell des vorherigen Unterkapitels besteht also darin, dass der Zinssatz aufgrund seines Einflusses auf die Investittionsnachfrage einen negativen Effekt auf das sich einstellende Gleichgewicht hat.

Grafische Herleitung

Die grafische Herleitung des Gleichgewichts unterscheidet sich nicht von der Herleitung aus dem vorherigen Unterkapitel. Schließlich ist die Darstellung der beiden Nachfragefunktionen in einem Diagramm mit der Nachfrage auf der vertikalen Achse und dem Einkommen auf der horizontalen Achse unverändert. Inhaltlich unterscheiden sich beide Funktionen jedoch, weil der Zinssatz nun einen Effekt auf die aggregierte Nachfrage ausübt, wodurch er auch einen Einfluss auf das Gleichgewicht hat wie in Abbildung 6.15 gezeigt. Dies bedeutet wiederum, dass die Beschäftigung ebenfalls vom Zinssatz abhängig ist.

Für die grafische Herleitung greifen wir auf unser numerisches Beispiel des einfachen Modells aus dem vorherigen Modell zurück. Das Gütermarktgleichgewicht und die gleichgewichtige Beschäftigung sind in Abbildung 6.14 dargestellt. Rein optisch unterscheidet sich die Abbildung allerdings nicht von Abbildung 6.11. Eine Erhöhung des Realzinssatzes würde nun jedoch die Nachfragefunktion parallel nach unten verschieben und so zu einem geringeren Gleichgewichtseinkommen und zu einer geringeren Beschäftigung führen.

Abbildung 6.14: Gütermarktgleichgewicht und gleichgewichtige Beschäftigung mit zinsreagiblen Investitionen.

Ein höherer Realzins wirkt negativ auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht.

Abbildung 6.15: Ein höherer Realzins wirkt negativ auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht.

In Kapitel 7 werden wir den Zusammenhang zwischen Zinssatz und gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht nochmals aufgreifen und diskutieren wie die Zinspolitik der Zentralbank die Entwicklung der Gesamtwirtschaft beeinflussen kann.

6.5 Akzeleratoreffekt im Einkommen-Ausgaben-Modell

Hier erweitern wir das Modell aus dem vorherigen Abschnitt um einen nachfrageabhängigen Teil in der Investitionsfunktion, wie wir ihn in Abschnitt 4.3 kennengelernt haben. Ein positiver Effekt der Nachfrage auf die Investition scheint plausibel, wenn die Unternehmen ihre Investitionen erhöhen müssen, um die gestiegene Nachfrage zu bedienen. Der nachfragebedingte marginale Anstieg der Investitionen, \(a_Y\), wirkt im Gütermarktmodell also so ähnlich wie der einkommensbedingte marginale Anstieg der Konsumnachfrage, \(c_Y\), d.h. ein initialer Nachfrageimpuls („Nachfrageschock“) führt über den Akzeleratoreffekt und die marginale Konsumneigung wiederum zu einem Anstieg der Nachfrage. Beide Effekte wirken also positiv auf den Multiplikator. Das Gütermarktmodell mit Akzeleratoreffekt ist nun durch folgende Gleichungen gegeben:

  • Aggregierte Nachfrage (2.1): \[Y_N = C + I + G\]
  • Konsumfunktion (3.1): \[C = c_a + c_Y Y\]
  • Investitionsfunktion (4.8): \[I = a_a - a_r r + a_Y Y\]
  • Realzins: \[r = \overline{r}\]
  • Staatsausgaben (5.1): \[G = \overline{G}\]
  • Beschäftigung (6.16): \[L = Y\]
  • Gleichgewichtsbedingung (6.1): \[Y_N = Y\]

Der einzige Unterschied zum Modell aus Abschnitt 6.4 besteht also in der Investitionsfunktion (4.8).

Formale Darstellung des Gleichgewichts

Das Gleichgewicht können wir formal genauso wie oben bestimmen und erhalten:

\[\begin{equation} Y^* = \frac{1}{\left(1 - c_Y - a_Y \right)} \left( c_a + a_a - a_r r + \overline{G} \right) \tag{6.19} \end{equation}\]

Wobei der Multiplikator nun zu \(\mu = \frac{1}{\left(1 - c_Y - a_Y \right)}\) wird. Der Multiplikatorwert ist jetzt höher. Nehmen wir an, dass \(c_Y = 0,5\) und \(a_Y = 0,1\) ist, erhalten wir \(\mu\) = 2,5, ein Wert, der größer als der Multiplikatorwert ohne Akzeleratoreffekt ist. Wenn die Regierung die Ausgaben (\(\Delta G\)) beispielweise um 1 Mio. Euro erhöht, steigt das Gleichgewichtseinkommen um 2,5 Mio. Euro.

Grafische Darstellung des Gleichgewichts

Die grafische Darstellung des Gleichgewichts in Abbildung 6.16 unterscheidet sich hier nur hinsichtlich des Anstiegs der Nachfragfunktion. Die Einführung des Akzeleratoreffekts, \(a_Y\), führt zu einem höheren Anstieg der Nachfragefunktion und somit zu einem höheren Multiplikatorwert.

Abbildung 6.16: Gütermarktgleichgewicht und gleichgewichtige Beschäftigung mit Akzeleratoreffekt in der Investitionsfunktion.

Abschließend können wir festhalten, dass Einkommen-Ausgaben-Modelle des Gütermarktes, wie wir sie oben erörtert haben, immer auf das Produkt aus Multiplikator, \(\mu\), und der einkommensunabhängigen Nachfrage, \(Y_{N_a}\), reduziert werden können.

\[\begin{equation} Y^* = \mu Y_{N_a} \tag{6.20} \end{equation}\]

Wir haben auch gesehen, wie die Einführung zusätzlicher einkommens- bzw. nachfrageabhängiger Modellkomponenten die Größe des Multiplikators verändern kann. So hat beispielsweise die Einführung einer Steuerfunktion, die zum Teil endogen vom Einkommensniveau abhängt, den Wert des Multiplikators reduziert. Die Einführung einer nachfrageabhängigen Investitionsfunktion (Akzeleratoreffekt) hat im Gegenteil einen positiven Effekt auf den Wert des Multiplikators. Wir haben auch gelernt, wie sich die Einführung exogener Variablen (z.B. des Realzinses in der Investitionsfunktion) nicht direkt auf den Wert des Multiplikators auswirkt. Dennoch hat die Wertänderung einer exogenen Variablen aufgrund der Wirkung des Multiplikators immer eine größere Wirkung als der anfänglich ausgelöste Impuls selbst.

Der Multiplikator und die einkommensunabhängige Nachfrage bestimmen das Gütermarktgleichgewicht (Abbildung 6.17).

Multiplikator und einkommensunabhängige Nachfrage bestimmen das Gütermarktgleichgewicht.

Abbildung 6.17: Multiplikator und einkommensunabhängige Nachfrage bestimmen das Gütermarktgleichgewicht.

Weiterführende Literatur zu Kapitel 6

Lehrbücher:

Andere Literatur:

References

Carlin, W. und D. W. Soskice. 2015. Macroeconomics: Institutions, Instability, and the Financial System. Oxford University Press.
Haavelmo, T. 1945. Multiplier effects of a balanced budget. Econometrica: Journal of the Econometric Society 13, Nr. 4: 311–318.
Hein, E. 2013. The crisis of finance-dominated capitalism in the euro area, deficiencies in the economic policy architecture, and deflationary stagnation policies. Journal of Post Keynesian Economics 36, Nr. 2: 325–354.
Heine, M. und H. Herr. 2013. Volkswirtschaftslehre: paradigmenorientierte Einführung in die Mikro- und Makroökonomie. 4. Aufl. München: Oldenbourg.

  1. Endogene Variablen werden erst durch das “Lösen” eines Modells bestimmt. Sie sind also von anderen Modellvariablen und Parametern abhängig. Exogene Variablen sind unabhängig von anderen Variablen und Parametern des Modells. Sie werden also von außen vorgegeben.↩︎

  2. Dies würde sich ändern, wenn wir z.B. einen Akzeleratoreffekt in unsere Investitionsfunktion aufnehmen würden, wie in Gleichung (4.8).↩︎

  3. Zumindest werden die Unterschiede zwischen Angebot und Nachfrage im Laufe der Anpassung unendlich klein.↩︎

  4. Eine alternative Herleitung des Multiplikators findet man im Anhang G.↩︎

  5. Mehr zum Zusammenhang von Beschäftigung und Produktion in Kapitel 8.↩︎

  6. Die Arbeitsproduktivität ist in diesem Beispiel auf einen Wert von 1 festgesetzt.↩︎

  7. Vergleiche hierzu z.B Heine und Herr (2013, Kap. 4.3).↩︎

  8. In unserem einfachen Einkommens-Ausgaben-Modell ist das Preisniveau konstant, es gibt also keine Inflation, so dass Real- und Nominalzinssatz gleich sind (Warum?)↩︎